Die besten Bücher schreibt immer noch das Leben.
Als Lotte an diesem Tag nach Hause kommt, sind ihr Mann weg, ihr Job und ihre Wohnung.
Doch wo Verlust ist, ist auch Gewinn.
In Lottes Fall sind das ein Findelhund, ein eigenes Haus, wundervolle Nachbarn, ein alter Freund, eine schwangere Tochter und Verfolgungswahn. Oder wie sonst ist zu erklären, dass der geheimnisvolle Jogger nicht nur in ihren Träumen, sondern auch beim Frisör, im Yogakurs und sogar in ihrem Urlaub auftaucht?
Plötzlich überschlagen sich in Lottes ehemals so langweiligem Leben die Ereignisse...
KAPITEL eins
Kalle ist weg.
Diese elende Mistratte!
Ich könnte heulen vor Wut. Zornig presse
ich die Kiefer aufeinander, spanne die Bauchmuskeln an und balle meine Hände zu
Fäusten, bis die Fingernägel tief ins Fleisch schneiden. Das hat mir gerade noch
gefehlt. Ich ziehe feuchte Luft durch die Nase und wische mit dem Handrücken
nach. Nicht gerade ladylike. Aber ich bin keine Lady und habe auch nicht den
Ehrgeiz, eine zu werden. Also: Warum muss mir das passieren? War der Tag nicht
schon beschissen genug?
Jetzt
halte mal den Ball flach, Charlotte, fordert meine innere Stimme, sooo schlimm ist das nun auch wieder nicht –
hässlich wie der ist! Pfff... die hat gut reden! Ich weiß ja selbst, dass
Kalle keine Schönheit ist. Mit Piercing im Ohr und Tattoo auf dem Arsch.
Zugegeben, schon irgendwie bescheuert... aber eben das, was ihn ausmacht.
Meinen Kalle, dessen Existenz ich zwar für möglich, aber nicht sehr
wahrscheinlich gehalten habe. Es war Liebe auf den ersten Blick. Vor genau
einem Jahr. Ausgerechnet in einem Buchfach-handel. Wie geil ist das denn? Meine
innere Stimme schüttelt seufzend den Kopf.
Mein Gott, was tu ich nur ohne Kalle?
Resigniert lasse ich mich auf den Drehstuhl sinken. Mein Blick schweift
zunächst ins Leere. Doch dann... unter Tausenden würde ich ihn wiedererkennen.
Sein dünner rosa Schwanz ragt zwischen zwei Kosmetikdisplays hervor, die ich
erst am Nachmittag im Büro zwischengelagert habe. „Du elende, stinkende
Mistratte“, stoße ich fluchend aus und greife nach dem Lümmel. Mir fällt ein
Stein vom Herzen. Seufzend presse ich Kalle an mich.
„Wird’s dann bald mal?“, tönt es
unfreundlich vom Verkaufsraum zu mir herüber und Anne wuchtet ihren dicken
Hintern ins Büro. Sie war auf dem Klo und zieht eine unverkennbare Duftnote
hinter sich her. Anne macht gerade Kohlsuppendiät. Bäh! Wie ein
Schwertransporter nimmt sie Fahrt auf. „Mein, Gott! So ein Gedöns um... um...?“
Anne grabscht nach Kalle und beäugt ihn kritisch. „Igitt, ist der hässlich.“
Das musst du gerade sagen,
denke ich und runzele verärgert die Stirn.
Anne fällt weder unter die Kategorie
Wuchtbrumme noch Walküre. Damit hätte sie sich nämlich glücklich schätzen
können. Anne ist dermaßen unförmig, dass man meinen könnte, der Schöpfer hätte
Knete gespielt und sich nicht zwischen Giraffe und Walross entscheiden können.
Dazu kommt ein Gesichtsausdruck, der unweigerlich an Zahnschmerzen erinnert.
Mit ihrer chronisch schlechten Laune kontaminiert sie die Luft und ich frage
mich allmorgendlich, warum, um alles in der Welt, ich mir das hier antue.
„So“, sagt Anne und presst Kalle unwirsch
an meine Brust, „und jetzt sieh zu, dass du endlich Land gewinnst. Ich will
auch mal Feierabend machen.“
Ich nicke erleichtert und husche durch den
Personaleingang nach draußen.
„Und morgen werden die Displays
aufgestellt. Aber ordentlich!“
„Geht klar“, verspreche ich und füge leise
hinzu: „Olle Sklaventreiberin.“
„WAS?“, plärrt Anne und hält sich die Hand
hinters Ohr.
„Daaa sind tolle Faaarben driiin!“ Ich
öffne hastig die Tür meines neunundsechziger VW Käfers. Wir haben dasselbe
Baujahr. Der Käfer und ich. Er tuckert allerdings wesentlich munterer durch die
Welt. Zumindest heute.
„Jaja“, plärrt Anne, was so viel heißt wie
mir doch scheißegal, ich muss den Mist ja
nicht machen und pfriemelt weiter am Sicherheitsschloss des Drogeriemarkts.
„Und du besorgst dir mal ’nen Neuen. Der da ist ja echt abartig.“ Damit meint
sie Kalle.
Stimmt. Ich betrachte Kalle, der jetzt
noch schmuddeliger ausschaut als zuvor. Aber mir gefällt er. So wie er ist. Die
graue Plüschratte mit Ring im Ohr und eingesticktem Arschgeweih. Der schönste
Schlüsselanhänger, den ich je gesehen habe. So einfach ist das.
Ich drehe mich noch einmal um. Eine blöde
Eigenschaft. Eine saublöde Eigenschaft, obgleich auch nur in Zusammenhang mit
Anne. „Sag mal, brauchst du vielleicht Hilfe?“
Meine Chefin gibt undefinierbare Laute von
sich.
Wider besseren Wissens schließe ich die
Wagentür und gehe zurück zum Drogerieeingang. „Klemmt es wieder?“
Annes Gesicht ist inzwischen rot und die
Anstrengung treibt ihr Schweißperlen auf die Stirn. „Was denn sonst?“, knurrt
sie und zerrt am Schlüssel.
„Du solltest nicht einfach nur nach hinten
ziehen“, rate ich ungefragt und bereue es schon, während ich es sage, „sondern
ein klein wenig dabei ruckeln. Das kenn ich von Fri... meinem Käfer.“
Anne hält einen Moment inne und dreht dann
langsam ihren Kopf in meine Richtung. „Hat deine Schrottkarre etwa auch einen
Namen?“
Mir steigt das Blut in den Kopf. Er heißt
Fritzi. Aber das werde ich Anne jetzt ganz bestimmt nicht auf die Nase binden.
„Ähm... ich wollte nur behilflich sein.“
„Na“, sagt Anne und schiebt ihren Hintern
beiseite. „Dann mach mal, du Besserwisserin.“
Ich seufze leise. Anne ist nicht gerade
das, was man umgänglich nennen würde. Sie ist unzufrieden und launisch. Sie ist
ungerecht, herrschsüchtig und liebt es, mich vor den Kunden bloßzustellen. Ich
bin überzeugt, selbst der Dalai Lama wäre ihr schon an die Gurgel gesprungen.
Seit fünf Jahren arbeite ich in der kleinen Drogerie, die Anne von ihrem Vater
übernommen hat. Und in diesen fünf Jahren hat sie keinen Tag ausgelassen, um mich
zu schikanieren.
Ich gehe in die Hocke und sondiere
zunächst die Lage. Dann justiere ich den Schlüssel.
„Wird das noch was?“, raunt Anne
ungeduldig.
„Immer mit der Ruhe“, erkläre ich und
rüttele unter vorsichtigen Ziehbewegungen am Schlüssel. „Sonst bricht...“
„Red nicht und lass mich mal!“
Aus dem Augenwinkel sehe ich Annes breiten
Hintern in rasanter Geschwindigkeit auf mich zukommen und fürchte fast, zwischen
ihren Arschbacken zu verschwinden. Beinahe zeitgleich spüre ich den Aufprall.
Mein Fuß knickt um, ich strauchle zur Seite und lande mit Wucht auf meiner
Handtasche, in der es verdächtig knackt. „Oh!“
Annes Blick fällt zunächst aufs Schloss,
dann auf das Metallstück in meiner Hand. „Der ist abgebrochen“, schlussfolgert
sie.
„Jepp“, schlucke ich und erwarte ein
Donnerwetter.
Doch Anne räuspert sich nur und kramt in
ihrer Tasche nach dem Handy. Mit speckigen Fingern wählt sie die Nummer des
Schlüsseldienstes. „Wanne hiiieeer“, flötet sie ins Telefon, das fast
vollständig unter ihrem Doppelkinn verschwindet. „Friiiedje, mein Bester, wir
haben einen kleinen Notfall...“ Sie fährt sich immer wieder durchs Haar und
sieht versonnen in den dunklen Januarhimmel. „Charlotte, meine Angestellte...
... Hat man immer Ärger mit. ... Jaaa. ... Hat den Schlüssel vom Haupteingang
abgebrochen. ... Ach, ungeschickt. ... Wie sie eben so ist. ... Hmhm.“
Ich erhebe mich langsam. Die schmutzigen
Hände wische ich an meiner Hose ab und lausche dem Telefonat, das sich wie der
letzte Versuch einer notgeilen Mitvierzigerin anhört – und wahrscheinlich auch
ist.
„So, meine Liebe.“ Anne verzieht das
Gesicht zu einer Fratze und lässt das Handy wieder in ihrer Tasche
verschwinden. „Mach dir keine Sorgen“, säuselt sie schmallippig. „Wendelin
Junior schaut gleich noch vorbei und richtet das Malheur. Du kannst nach Hause
gehen.“
„Ähm, soll ich nicht... ich meine...?“ Das
stinkt. Das stinkt gewaltig. Ganz gewaltig!
Annes Gesicht leuchtet wie eine überreife
Tomate. Ich tippe der Einfachheit halber auf eine hormonelle
Ausfallerscheinung. Aber angelächelt – und das soll es wohl sein, was sie da
mit ihren Gesichtsmuskeln veranstaltet – hat sie mich noch nie.
Anne winkt mit erhobenen Händen ab. „Nein,
nein. Geh du nur. Die Rechnung werfe ich dir dann in den Briefkasten.“
Hab ich’s nicht gesagt? Nickend wende ich
mich zum Gehen.
„Ach, Charlotte?“
Ich bleibe stehen. Was denn noch?
„Du bist zum ersten April gekündigt.“
KAPITEL
zwei
Als ich Fritzi zehn Minuten später am
Straßenrand parke, habe ich Annes Worte noch immer nicht verinnerlicht.
Gekündigt? Das kann doch nicht sein! Schließlich bin ich Alleinverdienerin. Nur
aus diesem Grund schufte ich für einen Hungerlohn fünf Tage in der Woche von
acht bis sieben in Annes inzwischen schon schwer heruntergewirtschafteten
Drogerie. Und gerade jetzt, wo im nahegelegenen Industriepark Drogerien,
Supermärkte und Boutiquen wie Pilze aus dem Boden schießen, ist noch mehr
Einsatz gefordert – den ich ohne Zögern ableiste. Ich bin ein Arbeitstier.
Tillmann, mein langjähriger Lebensgefährte
und Vater meiner beiden Kinder, widmet sich seit Abschluss seines Soziologie-studiums
voll und ganz der Erziehung unserer Sprösslinge. Ich bin stolz auf seine Leistung.
Was den Haushalt betrifft, hat er zwar ein weniger gutes Händchen. Aber auch
das nehme ich gelassen hin. Wussten Sie eigentlich, wie entspannend
Mitternachtsbügeln sein kann? Oder wie viel Kalorien man beim Fensterputzen
verbraucht? Und dass das richtige Spülmittel tatsächlich zarte Hände macht?
Verheiratet sind Tillmann und ich nicht. Wieso auch? Die Einzige, die Anstoß
daran nimmt, ist meine Mutter. Und selbst sie hat sich nach achtzehn Jahren
wohl daran gewöhnt. Nur dass Tillmann weder behördlich noch notariell die
Vaterschaft von Lilli und Paul anerkannt hat, ist ihr nach wie vor ein Dorn im
Auge. Mir macht das nichts aus. Ich liebe Tillmann und Tillmann liebt mich.
Zu meiner Verwunderung ist gerade jetzt
kein einziges Mitglied meiner heißgeliebten Familie zugegen. Auch gut. Ich
benötige dringend und vorrangig eine bewusstseinserweiternde Droge. Diese gönne
ich mir in Form eines selbst aufgebrühten Mokkas und einer Kippe in der Küche.
Dazu reiße ich die beiden mickrigen Flügelfenster über Spüle und Arbeitsplatte
auf, damit nicht zu viel Qualm in der Wohnung steht, wenn meine Familie nach
Hause kommt. Sie wird mich formvollendet bedauern, weil Anne heute eindeutig
den Bogen überspannt hat. Das werde ich ihnen kläglich berichten.
Gefeuert.
Anne hat mich gefeuert. Langsam brennt sich diese Tatsache in mein Bewusstsein
ein und mir wird klar, welche Konsequenzen das auf unsere Zukunft hat. Ich sehe
mich schon beim Arbeitsamt sitzen und Stunden in den Fluren des Sozialamts
verbringen. Meine Kinder muss ich in die Suppenküche schicken, damit sie
wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag
bekommen, Tillmann werden die Haare vor Kummer ausgehen und irgendwann sterben
wir alle an Magersucht oder verfallen dem Suff. Wobei wir uns Letzteres gar
nicht leisten können.
Schnell schüttele ich diese Gedanken ab. Jetzt übertreibst du aber, schimpft mich
meine innere Stimme. Und sie hat Recht. Ich rufe Tillmann an, um unseren
Familienrat einzuberufen. In meiner Tasche krame ich nach dem Handy. „Autsch!“
Irgendwas hat mich gestochen. Ich schütte den kompletten Inhalt auf den
Küchentisch und mein Handy kommt zum Vorschein. Oder das, was davon noch übrig
ist. Das Display hat’s zerlegt. Mit voller Wucht. Die kleinen Splitter
zerstreuen sich über die ganze Fläche. Zwei Teile stecken in meinem
Zeigefinger. Na, klasse. Aber noch ein Grund mehr, mich ausgiebig bedauern zu
lassen.
Dann eben übers Festnetz. „Der gewünschte
Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar“, klärt mich eine freundliche Stimme
auf und wiederholt selbiges in Englisch. Mensch, Tillmann, wo treibst du dich
nur rum? Nicht einmal das Abendessen hat er mir vorbereitet. Gähnende Leere im
Kühlschrank. Ich schmolle mit meinem durch Abwesenheit glänzenden Liebsten und
beschließe, zunächst unter die Dusche zu springen und mir dann eine
Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben.
Ich habe mich gerade aus meinen Klamotten
geschält, als unsere Wohnungsklingel hektisch kreischt. Sicher hat Lilli ihren
Haustürschlüssel vergessen. Rasch wickle ich mich in ein Badetuch und eile zur
Tür.
„Tachin, Frau Freund“, begrüßt mich der
olle Herr Treudl, unser Vermieter, und bekommt angesichts meiner freizügigen
Erscheinung Stielaugen. „Ick hab hier Ihre Kisten.“
„Kisten?“, frage ich nach einem kurzen
Moment der Verwirrung. „Welche Kisten denn?“ Die Verwirrung hält immer noch an.
Aha.
„Sum Umsien“, nuschelt er und stiert
ungeniert auf meine nackten Schenkel. „Zwanzeh Dingers.“
Ich kann diesen Typen nicht leiden. Und
jetzt, nachdem ihm vor vier Wochen seine blutjunge und zugegeben über die Maßen
attraktive Ehefrau völlig überraschend weggelaufen ist, schon gar nicht mehr.
Völlig testosterongesteuert stiert er jedem Wesen nach, das auch nur
ansatzweise weiblich ist oder sein könnte.
„Herr Treudl, ich verstehe Sie nicht. Tut
mir leid.“
„Uuum-siiieeen!“, wiederholt er, als sei
ich geistig minder-bemittelt. „Sach-chen rein-tun.“
Ich kapiere immer noch nicht. „Welche
Sachen denn?“
Treudl schüttelt mitleidig den Kopf.
„Hier“, reicht er mir einen zerknitterten Brief, „ick hab’s ooch noch mal
schriftleh. Für die janz Doofen. Tschüss denn.“ Damit lässt er mich, nicht ohne
noch einen letzten, lüsternen Blick auf meinen Busen zu werfen, stehen.
Unverschämter Pappsack! Ich ignoriere die
zwanzig gefalteten Kartons, die den halben Flur blockieren, und ziehe mich mit
dem von Kaffee- und Fettflecken übersäten Brief in die Küche zurück. Sehr
geehrter Herr Bübchen, lese ich, wie Ihnen bereits mündlich mitgeteilt,
kündigen wir das bestehende Mietverhältnis der Wohnung wegen Eigenbedarfs zum
einunddreißigsten Januar. Hä? Ich stutze. Nee, so einfach geht das nicht! Da
gibt es Fristen! Ich werfe einen erneuten Blick auf das Schreiben. Datiert vom
Mai letzten Jahres. Ich lese den Brief ein zweites und ein drittes Mal. Doch
auch beim vierten Lesen ändert sich nichts am Inhalt – und der Tatsache, dass
Tillmann, mein geliebter Partner und Vater meiner Kinder, von der
Wohnungskündigung gewusst haben muss. Na, der kann heute Abend was erleben!
Verdammt, wo bleibt er nur? Wo steckt er
überhaupt? Und wo sind meine Kinder? Erneut wähle ich Tillmanns Nummer. Und
erneut erklärt mir die nette Dame am anderen Ende der Leitung gleich
zweisprachig, dass mein gewünschter Teilnehmer, zum Teufel noch mal, gerade
nicht zu erreichen ist! Wäre es jetzt nicht an der Zeit, nervös zu werden? Ich
schiele zur Uhr. Gleich halb acht. Ja, es ist an der Zeit, nervös zu werden.
Ich schlüpfe ungeduscht in meinen
Hausanzug, setze mich wieder in die Küche und trommle mit den Fingern auf die
Tischplatte. Aber bringt ja auch nichts. Definitiv. Also werfe ich einen Blick
in meine Mokkatasse, die umgestülpt auf dem Unterteller dümpelt. Von meiner Oma
habe ich das Lesen im Kaffeesatz gelernt. Ich kneife die Augen zusammen und betrachte
konzentriert die verrotzte, braune Masse, die sich malerisch über das
Tasseninnere ergießt. Ich sehe einen Mann mit Koffer oder ähnlichem, und noch
eine weitere Person, dicht daneben. Sind das der schmierige Treudl mit seinen
blöden Umzugskartons und sein bescheuerter Neffe, der sich zurzeit ständig hier
rumtreibt? Auf der gegenüberliegenden Seite zwei Häuser. Unverkennbar. Mittig
vier Menschen, gefolgt von zwei undefinierbaren Pünktchen, die im Entenmarsch
von einem zum anderen wandern. Was soll das denn sein?
Ich wähle ein letztes Mal Tillmanns
Nummer. Wie erwartet, erfolglos. Hilft nix. Jetzt rufe ich Mama an. Doch auch
hier nimmt niemand ab und allmählich macht sich Panik in mir breit. Als es
klingelt, schrecke ich hoch. Dabei fällt die Mokkatasse zu Boden und zerspringt
in zwei Teile. Zu meinen Füßen landet das Teil mit den beiden Wanderern. Jetzt
klingelt es Sturm und ich haste in den Flur. Kein Kunststück, wenn man in einer
Wohnung lebt, die die Größe eines Schuhkartons hat. Meine Wangen glühen, als
ich die Tür aufreiße.
„Mama?“
Meine Mutter nickt und schiebt sich mit
einem rotbäckigen, rotznasigen Paul in die Wohnung. „Na, Kind?“
„Hallo mein Schatz“, gehe ich vor Paul in
die Hocke und betrachte ihn besorgt. „Was ist denn mit dir los?“ Ich streichle
über sein warmes Gesicht. „Dir geht’s nicht gut?“
Paul nickt und ich presse ihn sanft an
mich.
„Er hat sich erkältet, Charlotte. Mehr
nicht.“ Mama tätschelt mir beruhigend die Schulter. „Ich war heute früh mit ihm
beim Doktor, und etwas gegen sein Fieber hat er auch schon bekommen. Ach, und
hier“, sie kramt in ihrer Tasche, „ist seine Krankenkassenkarte.“
Ich nehme ihr das Chipkärtchen ab und bin
leicht irritiert. „Wieso war Tillmann nicht mit ihm beim Arzt?“
Mama seufzt und zieht die Schultern nach
oben. „Er brachte mir Paul heute Morgen vorbei und sagte, er habe noch etwas zu
erledigen. Ich möchte ihn um halb acht nach Hause bringen.“
„Was hatte er denn so Wichtiges zu
erledigen?“, frage ich gereizt. Einerseits, weil ich von nichts weiß und
andererseits, weil er mein krankes Kind bei der Oma geparkt und mich nicht
darüber informiert hat.
Wieder antwortet meine Mutter mit einem
Schulterzucken. „Kann ich dir nicht sagen, Lottchen. Tillmann war ziemlich in
Eile. Ist er denn nicht schon wieder zu Hause?“
„Nee“, knurre ich.
„Alles in Ordnung zwischen euch?“ Sie legt
mir fürsorglich die Hand auf die Wange.
Eigentlich dachte ich, ja. Aber nachdem
ich das Kündigungs-schreiben für unsere Wohnung gelesen habe, kommen mir gerade
berechtigte Zweifel. Sollte ich meiner Mutter...?
„Gehst du bitte schon mal ins Bad und
machst dich bettfertig, Paul?“
Mein Sohn nickt schwächlich. Er ist jetzt
zehn Jahre und außerordentlich selbständig. Doch wenn sie kränkeln, sind alle
Männer gleich.
„Ruf mich, wenn du Hilfe brauchst. Ich bin
mit Oma in der Küche.“
Meine Mutter versteht und geht voran.
„Guck mal“, sage ich und schiebe Treudls
Brief über den Tisch.
Sie liest den Wisch, runzelt die Stirn und
sieht zu mir auf. Dann liest sie ihn ein zweites Mal und schüttelt den Kopf.
Nach dem dritten Lesen grübelt sie. „Vielleicht... vielleicht hat er ja einen
Termin mit einem Makler und... und...“
„Und hat ein idyllisches Häuschen im
Grünen gefunden?“ Ich zünde mir eine Zigarette an. „Das glaubst du doch nicht
wirklich, oder?“
Mama hustet gekünstelt. „Bäh, das stinkt.“
Ich weiß, das stinkt gewaltig. Genauso wie
Annes Lächeln vor ein paar Stunden. Mir läuft ein Schauer über den Rücken.
„Deine Zigarette! Muss das sein?“ Mutter
fuchtelt wild vor ihrem Gesicht herum.
„Mama“, ignoriere ich ihre wilden Gesten,
„Anne hat mir zum ersten April gekündigt.“
Ich sehe, wie meiner Mutter mit einem
Schlag die Farbe aus dem Gesicht weicht. „Mit so etwas macht man keine Scherze,
Charlotte.“
Ich schlucke den Klos in meinem Hals
hinunter und nehme einen kräftigen Zug aus meiner Zigarette. „Sieht Anne wie
ein Witzbold aus?“
Sie schlägt die Hand vor den Mund. „Oh,
nein...“
Ich höre einen Schlüssel knacken.
Tillmann!
„Wo warst du, verdammt noch mal?“, raune
ich, noch bevor die Tür zurück ins Schloss gefallen ist, und springe auf.
„Bei Lea.“ Lillis Stimme klingt belegt.
Ihre Augen sind rot und verquollen.
Ich erschrecke. „Schatz“, streiche ich
eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Was ist los?“
Meine siebzehnjährige Tochter schüttelt
den Kopf, während sich ihre Augen mit Tränen füllen.
Sanft fahre ich mit der Hand über ihre
Wange. „Tim?“
Sie wirft ihre Arme um mich und bricht in
erbärmliches Schluchzen aus. Ihre Fingernägel krallen sich tief in meinen
Rücken. Sie zuckt am ganzen Leib.
Auch das noch! Ist heute ein
sprichwörtlicher Verlierertag? Ich verliere meinen Job, unsere Familie verliert
die Wohnung, Lilli verliert ihren Freund... verliere ich jetzt vielleicht auch
bald meinen Verstand?
„Ich glaube, ich lasse euch jetzt lieber
mal allein.“ Meine Mutter streichelt ihrer Enkelin übers Haar und gibt mir
einen Kuss auf die Stirn. „Wegen... wegen allem anderen reden wir morgen.“ An
der Tür wirft sie noch einmal einen sorgenvollen Blick auf das Häufchen Elend,
das Lilli und ich gerade darstellen. „Kannst mir Paul morgen früh gerne
vorbeischicken, wenn er noch krank ist. Nur falls Tillmann... also... du weißt
Bescheid.“
Ich nicke dankbar. Aber Bescheid weiß ich keineswegs. Mir schwirrt der Kopf.
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