Donnerstag, 29. Februar 2024

.herzblatt | leseprobe

Und glaube nicht, du kannst den Lauf der Liebe lenken.

Es gibt Tage, da wünscht man sich, im Bett geblieben zu sein. Und doch verändern sie dein Leben so, dass du es dir gar nicht mehr anders vorstellen möchtest. Ohne Action und trotzdem mit zahlreichen blauen Flecken. Auf Körper und Seele.

Lulu verliert zwei Jobs, einen Traum und ihr Selbstwertgefühl. Was sie bekommt, ist ein emotionales Jo-Jo, wahre Freundschaft und eine intrigante Widersacherin. Das Leben wäre ja auch sonst langweilig.

Die ehemalige Lektorin lebt mit ihrem Ex und dessen neuer Liebe unter einem Dach und findet ihre Bestimmung als Moderatorin beim Radio. Und Sam, der buchstäblich mit einem Knall in ihr Leben tritt. Der jedoch steht zwischen zwei Frauen und hat allerlei Mühe, die richtige Entscheidung zu treffen. Wie gut, dass es Freunde wie Gretchen und Oliver gibt, die dabei gerne behilflich sind.

KAPITEL eins


Und glaube nicht, du kannst den Lauf der Liebe lenken, 
denn die Liebe, wenn sie dich für würdig hält,
lenkt deinen Lauf.

Khalil Gibran.

 

Der Morgen lief ganz gut. Dann bin ich aufgestanden.

 

Ich erwache tiefenentspannt und durchaus befriedigt. Das war mit Abstand der geilste Sex seit dem Einsetzen meiner Periode. Und mit der ist es angesichts meines Jahrgangs schon weit her. Sehr weit.

Mit geschlossenen Augen sauge ich die Erinnerung der letzten Nacht tief ein. Ein perfekter Cocktail aus Kardamon, Patchouli und einem Hauch Bitterorange. Oder...? Ist das etwa Hundekacke?

 

Mein Radiowecker, ein Kind der frühen Achtziger, hat sich in alter Gewohnheit verselbständigt. Exakt siebenunddreißig Minuten vor der programmierten Alarmzeit und in eigenwilliger Lautstärke brüllt mir der gute Jon Bon Jovi You give love a bad name ins morgendlich sensible Gehör.

 

Es ist Hundekacke – und meine vaginale Hochstimmung relativ schnell im Eimer. Schwerfällig quäle ich mich aus dem Bett und sammle mittels Papiertuch die kleine Wurst auf. Phallisches Geistesgut verpufft, als mir der Duft verdauter Nahrungsmittel in die Nase steigt. Ich spüle sowohl Hundewurst, als auch jeglichen Gedanken an weitere, wie auch immer geartete Würste mit tiefem Seufzen das Klo hinunter.

 

„Bjööö-ööörn!“, grolle ich schon am Treppenaufgang. Zugegeben, es klingt wie der Ruf einer Domina. Stimmlich bin ich dauererkältet. Seit ich sprechen kann, klingt meine Stimme heiser, rau und manchmal ein wenig krächzend. Wie Pink!, sagen liebe Freunde. Wie die Frau von der Sexhotline!, sagen ehrliche Freunde. „Hast du Tyson gestern Nacht denn nicht noch mal nach draußen gelassen?“

Ich vernehme hektisches Klappern aus der Küche im Erdgeschoss.

„Nee-heee“, kommt die überraschte Antwort. „Hätte er denn noch mal gemusst?“

Ich klemme Tyson unter meinen Arm und schnaube: „Hätte er mir sonst ins Schlafzimmer gekackt?“

 

Tyson ist ein drei Monate alter Chihuahua. Sie wissen schon: diese mexikanischen Fledermäuse, die überwiegend aus Ohren bestehen, deren Augen aussehen, als litten sie unter Verstopfung, und die tatsächlich ganz offiziell als Kleinhundrasse anerkannt sind, weil sie bellen können. Genau so ein Exemplar wurde mir vor vier Wochen von einem Gast in der Jagdhütte aufgedrängt. „Sooonst iccch muss leidärrr ärrrtränken Chhhuuund in Bierrrglas“, erklärte das russische Double von Arnold Schwarzenegger mit tollwütigem Knurren in der Stimme, setzte ein nicht mal faustgroßes, zitterndes Etwas bedeutungsschwanger neben die potentielle Tatwaffe und dekorierte es mit Schaum. Beide sahen mich aus großen, hervorquellenden und tiefschwarzen Augen an. Der eine mit unverhohlener Ãœberheblichkeit, der andere mit trauriger Unschuld.

Ich bin eigentlich kein Mensch, der sich erpressen lässt. Aber als plötzlich unter der riesigen Pranke zwei winzige Pfoten im Gerstensaft paddelten, fühlte ich mich genötigt, einzugreifen und dem Drama ein Ende zu setzen.

„Nasdrowje!“, lachte Arnie, ließ Tyson in meine Schürzentasche gleiten, kippte den halben Liter Bier in einem Zug und bestellte noch zwei Wodka.

 

Wenn ich am Abend kellnere, liegt es an Björn, sich um den Hund zu kümmern. Und wenn ich am Morgen vor meinem regulären Job in die Küche komme, soll er dafür sorgen, dass mein Kaffee auf dem Tisch steht. Das sind so ziemlich die einzigen Pflichten, die der Herr des Hauses hat.

 

„Hat er ins Haus gemacht?“, fragt Björn und erwärmt zu meiner Missstimmung gerade erst das Wasser der Padmaschine. Das dauert!

„Was hab ich denn gesagt?“, blaffe ich. „Natürlich hat er ins Haus gemacht.“

„Dann hätte er wohl noch mal rausgemusst.“

Ich möchte Björn auf der Stelle erschlagen.

 

Normalerweise ist jetzt wieder kopfinterne Diskussion angesagt: Wie ungerecht vom Leben ich mich behandelt fühle, dass ich trotz zwei Jobs den Haushalt fast im Alleingang schmeiße und mir ständig seinen Kopf zerbreche. Normalerweise. Jetzt mache ich mir ein paar Gedanken weniger. Denn aufgrund der regressiven Wirtschaftslage sah sich der Pächter der kleinen gutbürgerlichen Kneipe, in der ich seit über zehn Jahren kellnere, gezwungen, Personal abzubauen. Gestern war mein Letzter. Einen Job bin ich also los.

Zwar bedauere ich den Verlust meines doch recht lukrativen Nebenverdienstes – der Abschied am gestrigen Abend war entsprechend tränenreich –, dennoch atme ich insgeheim auf. Chronischer Schlaf- und Erholungsmangel, nach acht Stunden Büro bis weit nach Mitternacht auf den Beinen – da danken dir Körper und Geist jede noch so kurze Auszeit. Außerdem ist im Verlag, in dem ich seit sechs Jahren arbeite, von Umstrukturierung die Rede, und ich mache mir nicht unbegründet Hoffnung auf den Posten der stellvertretenden Cheflektorin. Arndt und ich wären das perfekte Team. Tag für Tag würden wir Hand in Hand arbeiten und...

 

„Wolltest du nicht immer mal eine Prinzessin sein?“

„Hä?“ Björn reißt mich jäh aus meinen Gedanken. Gedanken an Arndt, was ich ihm besonders übelnehme.

„Hast du dir früher denn nicht gewünscht“, schiebt er sorgsam den Kaffeepott vor meine Nase, „eine Prinzessin zu sein?“

„Na, ganz sicher nicht!“ Ich habe mir vorgestellt, Superwoman zu sein. Oder ein Geschöpf der Finsternis, was im Ãœbrigen meine Vorliebe für Fledermäuse im Allgemeinen und Chihuahuas im Besonderen erklärt. Aber Prinzessin? Igitt! Niemals!

In Björns Gesicht zeichnet sich eine Spur Enttäuschung ab. „Ganz sicher nicht? Warum nicht?“

Ich stelle meine Tasse ein bisschen lauter ab als nötig.

Björn versteht die unausgesprochene Warnung. „Ja. Schon gut. Ist nicht wichtig.“ Er widmet sich zerknirscht seinem Laptop, der wie allmorgendlich anstelle einer Zeitung auf dem Küchentisch die Tagesnachrichten offeriert.

 

Björn und ich kennen uns seit siebzehn Jahren, dreizehn davon sind wir verheiratet.

 

„Ach, Lulu“, jaulte meine Mutter wie ein ausgesetzter Hund auf dem Raststättenparkplatz, als ich sie vor gut zwölf Monaten darüber in Kenntnis setzte, dass Björn und ich uns würden scheiden lassen. „Denkt doch auch mal in die Kinder!“

Kinder? „Mama? Welche Kinder?“

„Na... die, die ihr einmal haben werdet“, erklärte sie dogmatisch und ich stellte kurzzeitig mein Wahrnehmungsvermögen infrage.

Nach einer Diskussion, dass in meinem Alter die Chancen, schwanger zu werden, bei nicht mal mehr zwanzig Prozent liegen, stand diese Möglichkeit seit über fünf Jahren ohnehin außer Frage. Björn und ich hatten uns bereits weiter auseinandergelebt als Elton John und die Beckhams. Alles, was uns noch verband, war Freundschaft. Doch selbst das konnte sie von der Endgültigkeit unserer Entscheidung nicht vollständig überzeugen.

„Ein Kind würde euch wieder zusammen...“

„Maaa-maaa!“, fiel ich ihr genervt ins Wort.

„Aber Angelina und Brad haben doch auch...? Und Madonna? Und jetzt sogar der Pocher mit der Ex vom Boris... Nee, die haben’s ja selbst gemacht.“ Himmel! Sie sollte endlich ihr GALA-Abo kündigen.

„Nein!“

Mama seufzte enttäuscht. Doch ihre Enttäuschung barg nur die Trauer um den eigenen Verlust. Und dabei war der noch selbstgemacht, denn sie hatte Papa vor zehn Jahren nach einem heftigen Streit über die Anordnung der Joghurtbecher im oberen Fach des Kühlschranks erst zusammengefaltet und dann hochkant aus der Wohnung geworfen.

Mein wohl liebenswerter, aber völlig unselbständiger Erzeuger quartierte sich in der kleinen Pension meiner Schulfreundin Bea ein. Und so kam es, dass meine vermeintliche Stiefmutter nicht mal drei Monate älter ist als ich.

 

„Wie geht’s dir eigentlich? Jetzt? So?“

Ich sehe über die Schulter meines Spiegelbildes hinweg zu Björn, der lässig gegen den Türrahmen des Badezimmers lehnt.

Er ist noch immer ein kleiner Macho. Und das hatte ich echt an ihm geliebt. Mit den Jahren verkümmerte er jedoch mehr und mehr zum Weichei. Nicht, dass Björn einfach nur gerne andere für sich arbeiten lässt, er ‚verunselbständigt’ regelrecht. Es raubt mir den letzten Nerv, ihn ständig bemuttern zu müssen. Nichts geschieht in Eigeninitiative oder ohne dass er dafür überschwängliches Lob erwartet. Ja, hast du das fein gemacht? Ganz fein? Ja? Örks!

 

„Warum?“, frage ich skeptisch und tusche hochkonzentriert meine Wimpern. Wer sich schon mal versehentlich so ein Bürstchen ins Auge gerammt hat, passt künftig besser auf. „Hast du noch einen Job für mich?“

Björn tritt seufzend hinter mich und legt eine Hand auf meine Schulter. „Ach, Lulu. Nun sei doch froh, dass du endlich wieder ein bisschen Zeit für dich hast.“

„Schätzchen, ich verbringe den ganzen Tag mit mir. Ich denke also, ich habe genug Zeit für mich.“

Er schüttelt den Kopf. „Zeit, um unter Leute zu gehen.“ Als meine rechte Augenbraue nach oben schnellt, fügt er erklärend hinzu: „Ohne Tablett in der Hand. Nur zu deinem privaten Vergnügen. Verstehst du, was ich meine?“

„Ja“, erwidere ich knapp. „Und ich meine, ich komme zu spät zur Arbeit.“ Ich habe echt keine Lust, morgens um sieben tiefgründige Gespräche mit meinem Ex zu führen. „Könntest du bitte gleich noch mal mit Tyson nach draußen gehen? Und Bella und Edward brauchen frisches Wasser“, lege ich rasch seine Prioritäten für heute fest. „Die Spülmaschine habe ich eingeschaltet, die kannst du in zwei Stunden ausräumen. Der Müll muss nach draußen, deine Schmutzwäsche ins Bad und...“

„Ich habe mich verliebt.“

„...die Biotonne... Was?“

Eine zartrosa Färbung legt sich über Björns Wangen. Leise wiederholt er, was ich sehr wohl sehr gut schon beim ersten Mal verstanden habe. „Ich habe mich verliebt.“

„Na... das... das ist doch wunderbar!“ Gegenwärtig überfordert mit dieser Neuigkeit, fange ich mich jedoch rasch wieder. Immerhin sind wir seit fast fünf Jahren kein Paar mehr. Wie und wo er während dieser Zeit seinem hormonellen Ãœberdruck entgegenwirkte, will ich gar nicht wissen.

„Ja... und... Alex und ich sind ziemlich verliebt. Ineinander.“

 

Da steht er. Wie ein kleiner, schüchterner Junge. Ich küsse seine Stirn und knuffe ihm spielerisch gegen die Schulter. „Hey, das ist toll! Aber jetzt muss ich los.“

„Lulu?“, ruft Björn mir nach, als ich die Treppe hinunter zur Haustür haste. „Mir ist deine Meinung sehr wichtig, weißt du? Es ist nur okay, wenn es auch für dich okay ist.“

„Okay!“

„Lulu?“

Ich seufze. „Ja-haaa?“

„Ich koche was Schönes. Heute Abend. Für dich, Alex und mich. Ja?“

„Jaaa-haaa!“ Erleichterung macht sich in meinem Körper breit, als hinter mir die Tür ins Schloss fällt.

 

KAPITEL zwei

 

„Björn hat also wieder Sex“, fasst Gretchen meinen morgendlichen Bericht zusammen und blinzelt angestrengt in ihre Kaffeetasse. Liest sie da den Text ab? „Mit jemand anderem als sich selbst“, fügt sie stirnrunzelnd hinzu.

„Und du, mein Wonneproppen?“, erkundigt sich Piet gewohnt impertinent. „Wann, wo und wie hattest du denn das letzte Mal Sex?“

Gerne hätte ich „Gestern Nacht!“ geantwortet.

Doch da wendet Gretchen bereits ein: „Außer in deinen Träumen, natürlich.“

„Oder mit Big Johnny.“

Für diese Bemerkung versetze ich Piet einen Klaps gegen den Hinterkopf. „Wer solche Kollegen hat, braucht echt keine Feinde mehr.“

„Komm schon, Lulu“, drängt er dreist und ziemlich penetrant. „Erzähl mir deine kleinen Geheimnisse. Irgendwas Schmutziges.“

Ich winke Piet mit dem Zeigefinger näher. „Dein Hemdkragen.“

Gretchen prustet vor Lachen. „Du willst ein wirkliches Geheimnis erfahren, Piet?“

Er nickt und verdeckt mit einer Mappe seinen Hals.

Ich schmunzele schon mal vor.

„Es kommt doch auf die Größe an!“ Gretchen jongliert ein Lineal durch ihre Finger.

Kurze Stille. Dann ein Räuspern.

„Ich stehe trotzdem jederzeit gerne zur Verfügung“, lässt Piet uns wissen, bevor er mit leicht zerknirschtem Gesichtsausdruck abzieht.

Amüsiert schaue ich ihm nach und entdecke Arndt, der sich im Flur angeregt mit einem unserer Nachwuchsautoren unterhält. Er sieht kurz zu mir hinüber und lächelt.

„Oha!“ Mein Stoßseufzen interpretiert Gretchen als Zeichen zwischenmenschlicher Frustration. Oder kurz gesagt: schon sehr lange brachliegende sexuelle Aktivität im Hause Herz.

Und damit liegt sie ziemlich richtig.

 

Die letzten Male – und das ist bereits einige Jahre her – haben Björn und ich ausnahmslos in der Hündchenstellung miteinander geschlafen. Er ritt mich derart heftig, dass ich fürchtete, er könne mir jeden Augenblick in den Nacken beißen, mich besabbern und sich bis zum Abklingen der Erektion in mir verhaken. Am liebsten war ihm sowieso, wenn ich es ihm oral – igitt, allein der Gedanke löst noch immer Würgereiz in mir aus! – oder mit der Hand besorgte. Wir merkten schnell, dass keiner von uns beiden mehr richtig Spaß an der Sache hatte – und ließen es bleiben.

 

„Wie lange geht das eigentlich schon?“, fragt Gretchen und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Zwischen dir und Arndt?“

„Da geht doch überhaupt nichts“, erwidere ich und die Spur des Bedauerns in meiner Stimme gleicht einem Trampelpfad.

„Eben drum.“ Gretchen macht es sich auf meinem Tisch bequem. „Ihr kennt euch doch jetzt schon... wie lange? Zwei Jahre?“

„Drei Jahre“, korrigiere ich und schiele zur Tür. Allein diesen Mann anzusehen, ist schon wie Sex.

 

Arndt ist die personifizierte Erotik. Wie Hugh Jackman, George Clooney und Matthew McConaughey in einer Person. Er ist gut einsneunzig groß, schlank und durchtrainiert. Sein dichtes schwarzes, leicht gelocktes Haar ist an den Schläfen ergraut und verleiht ihm noch mehr Sexappeal. Als ob das nötig wäre! Er weiß das und versteckt sich hinter gespielter (oder ehrlicher?) Zurückhaltung. Das kann frau zur Raserei bringen – vor Sehnsucht und Verlangen. Nur die unangemessen helle Stimme ist wenig stimulierend. Doch wozu sollte er reden müssen? Die Frauen fallen schon ganz von alleine um.

 

„Kerle wie er stehen halt nicht auf Durchschnittsfrauen wie mich“, stelle ich sachlich fest. „Die haben ihre Heidis und Naomis und Claudias. Da kann ich nicht gegen anstinken.“

Gretchen ist eine durch und durch ehrliche Haut. Sie widerspricht mir nicht. „Stimmt schon. Aber weißt du, jeder Mensch trägt einen Zauber im Gesicht, der eines anderen Liebe erweckt.“

„Von welchem Kalenderblatt hast du das denn?“, frage ich und schenke ihr ein liebevolles Lächeln. Gretchen hat ihr Herz am rechten Fleck.

„Keine Ahnung“, zuckt sie mit den Schultern. „Doch es lässt sich auf keinen Fall leugnen, dass er in dir genau diesen Zauber sieht.“

„Ach, Quatsch!“, winke ich mit einem Gesichtsausdruck ab, der sagt: ‚Gib mir mehr! Gib mir mehr!’

Gretchen umfasst ihre Kaffeetasse wie ein Buch mit sieben Siegeln, das sie nun entschlüsseln würde. „Es ist offensichtlich, dass er ständig deine Nähe sucht.“

Ich muss zustimmend nicken.

„Dieses Geplänkel... und dann hat er immer so ein Glitzern in den Augen, wenn er sich mit dir unterhält. Hallo?“ Gretchen ist eine scharfe Beobachterin. „Die zarten Berührungen... traut er sich aber erst seit ein paar Wochen“, eruiert sie nachdenklich.

 Eine sehr scharfe Beobachterin, muss ich feststellen. „Äh...“

„Woran liegt’s denn noch? Und sag bloß nicht, an Sylvia“, greift Gretchen einer möglichen Ausrede – und nichts anderes wäre es gewesen – vor.

 

Sylvia ist eine dieser Frauen, die mit perfekt gezupften Augenbrauen und getuschten Wimpern zur Welt gekommen und mit einem Glanz bedacht sind, der jedem Kerl suggeriert: Bekomm ruhig einen Ständer bei meinem Anblick. Daneben komme ich mir vor wie Angela Merkel beim Baywatch-Casting.

 

Bis auf dieses eine Mal vor dreiundzwanzig Jahren...

 

„Weißt du, und wenn es nur wäre, um dieser Mascaraschnitte endlich eins auszuwischen“, scheint Gretchen meine Gedanken zu lesen. „Aber darum geht’s natürlich nicht“, fügt sie rasch hinzu.

„Natürlich nicht. Ich hatte ja schon meine Genugtuung.“

Sie tippt mir zart mit dem Finger auf die Nase. „Und du solltest dir noch was Gutes tun, Herzblatt. Lass es zu. Zeige ihm, dass du es auch willst.“

Ich nippe an meinem Kaffee. Eine Verlegenheitsgeste, wenn ich nicht weiß, was ich tun oder sagen oder gar denken soll.

„Wenn er so gut ist wie er aussieht“, fährt Gretchen enthusiastisch fort, „wird er dir das Hirn aus dem Schädel vögeln und du schreist immer noch ‚Mehr! Mehr! Tiefer! Tiefer!’“

 

„Was ist denn hier los?“

Arndt betritt mein Büro und Gretchen hopst rasch vom Tisch. „Szene aus einem Lektorat! Ich bin dann mal weg“, zwinkert sie und schließt die Tür hinter sich.

„Guten Morgen, Lulu. Ich...“ Er sieht zurück zur Tür. „Ich wollte nicht stören.“

„Tust du nicht! Tust du nie!“ Gedanklich schlage ich mir gegen die Stirn. Ich benehme mich ja wie ein Schulmädchen. Schnell nippe ich an meinem Kaffee.

Arndt scheint es zu gefallen. Er lächelt gerührt und kommt näher. Dabei berührt mich seine Schulter wie zufällig am Arm. „So?“

Ich spucke vor Schreck die braune Plörre in die Tasse zurück.

„Lulu?“

„Hm?“ Mein Herz knattert wie ein kaputter Auspuff, als ich an den Traum der vergangenen Nacht denke. Während mir wieder einfällt, was er alles mit mir angestellt hat. Und ich mit ihm. Meine Wangen beginnen zu glühen.

„Alles klar?“ Er beugt sich zu mir hinab und ich sauge mich an seinem Blick fest. Da war dieses seltsame Glitzern in seinen Augen, von dem Gretchen gesprochen hat. Oder bilde ich mir das nur ein?

Ich nicke mechanisch. „Ja, klar. Alles klar.“

„Wirklich?“ Arndt tritt näher, umfasst meine Oberarme und macht Anstalten, in meinem Gesicht zu versinken. Zumindest denke ich das. „Du hast was“, murmelt er und löst damit einen Impuls in mir aus.

Ich kann nicht anders. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn. Dann weiche ich erschrocken zurück.

Es ist wie im Film: Arndt zuckt kurz mit den Augenbrauen, während sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit macht. Mit der Zunge fährt er über sich über die Lippen, nimmt mich ins Visier und tritt erneut auf mich zu.

„Ent-ent-entschuldigung“, stottere ich, wohl wissend, eindeutig zu weit gegangen zu sein. „Ich... es...“

 

Die Erklärung holt sich Arndt direkt von meiner Zunge. Überraschend. Wild. Zügellos. Mir fegt es den Boden unter den Füßen weg und mein Hintern landet unsanft auf der Schreibtischplatte. Um nicht nach vorn über zu kippen, hat sich Arndt blitzschnell zwischen meine Beine gestellt. Quasi nur zur Sicherheit!

 

Genau das werden wir nämlich Sylvia erklären, die urplötzlich in meinem Büro steht, während sich Arndts rechte Hand noch in meinem BH befindet. Bevor Sylvia von ihren Unterlagen aufblickt, haben wir bereits einen Abstand von mehr als einem Meter zueinander hergestellt. Schnelligkeit ist eben alles.

„Es ist nicht das, wonach es aussieht“, merkt Arndt heiser an und räuspert sich kurz.

Hätte er nicht ausgerechnet diese bescheuerte Ausrede vom Stapel gelassen, man müsste Bodenfrost melden bei so viel Coolness.

„Was denn, Honigbärchen?“, kommt Sylvia äußerst beschäftigt in einem Manuskript blätternd, auf uns zu.

Honigbärchen? Ich unterdrücke einen Würgereiz.

 

Etwas verwirrt beobachte ich, wie Sylvia murmelnd im Kreis geht, genau drei Mal. Sie bleibt stehen und starrt mich an. „Wir müssen reden.“

Dachte ich mir. Diese Chance hatte ich ihr damals nicht gegeben. Das könnte jetzt heiter werden.

„Dies hier“, tippt sie bedeutungsvoll auf das Papier in ihrer Hand, „ist ein Manuskript des zweiten Teils der Fantasystory von Berta Brecht. Du hast es abgelehnt. Warum?“

Ich kneife mir selbst in den Arm, bevor ich antworte: „Weil ich den ersten Teil auch schon abgelehnt habe.“

„Die Autorin“, näselt Sylvia in autoritärem Tonfall, um mir einmal mehr ins Bewusstsein zu rücken, wer hier die Chefin ist, „hat sich persönlich bei mir beschwert.“

„Autorin?“, wiederhole ich ungläubig. „Autorin? Welche Autorin, bitte? Berta Brecht hat die Herr der Ringe-Trilogie eins zu eins ab-ge-schrie-ben.“

Kurzzeitig schaudert mir. Dann beruhigt mich der Gedanke, dass Sylvia womöglich so vertieft in den Text gewesen war, dass sie die prekäre Situation zwischen Arndt und mir tatsächlich nicht erfasst hat.

„Berta Brecht hat sich ja nicht mal die Mühe gemacht, die Namen zu ändern“, erkläre ich daher sachlich und stelle mich bereits auf eine längere Diskussion ein, als ich bemerke, wie Arndt tief Luft holt.

„Nun gut“, gibt Sylvia ungewohnt schnell nach. „Wenn du das sagst.“

 

Es tritt eine so unangenehme Stille ein, dass mir selbst eine Showeinlage von Roberto Blanko lieber gewesen wäre. Doch ich wage nicht, mich zu bewegen. Sylvia sieht mit einem Mal aus, als wolle sie mich anspringen und warte nur auf einen Wimpernschlag.

Arndt ist es, der seine Hand auf meine Schulter legt und mich damit binnen einer Sekunde um fünf Jahre altern lässt vor Schreck. „Dann wäre ja alles geklärt“, verstärkt er kurz den Druck und schickt sich an, zu gehen.

„Warte kurz, Honigbärchen“, wirft Sylvia ihre giftigen Fänge nach ihm aus und schlingt sie um Arndts verboten schlanke Hüfte.

Mir stockt der Atem.

„Ich wollte noch ein Wort zur Umstrukturierung sagen.“ Sie lächelt mich mit dem Charme einer schwarzen Witwe an. „Die Stelle des zweiten Cheflektorats werde ich selbst besetzen. Das Management wird vorübergehend Vater übernehmen. Ich muss mich schonen und so kann ich von zu Hause aus arbeiten.“

Dafür, dass mir von Arndt nicht das Hirn aus dem Schädel gevögelt wurde, bin ich gerade ziemlich schwer von Begriff. „Hä?“

„Wieso schonen?“, fragt Arndt und sieht auch nicht allwissend aus. „Wieso...?“

Interessiert mich überhaupt nicht. Ich bin nur frustriert, um einen gutbezahlten Job gekommen zu sein. Dennoch horche ich auf.

„Na, weil“, lächelt Sylvia so zuckersüß, dass ich beinahe Diabetes davon bekomme, „wir beide ein Kind erwarten.“

Ich kann den Schlag regelrecht hören, der Arndt mit voller Wucht trifft. „Wie bitte? Du bist schwanger? Von... äh... seit wann?“

Ein diabolisches Grinsen breitet sich über ihrem Gesicht aus. Sie packt Arndt energisch an der Hand. „Seit heute, Honigbärchen. Dafür wirst du jetzt sorgen. Komm mit!“

 

Er soll ihr jetzt ein Kind machen? Was glaubt sie denn, was er ist? Ein andalusischer Zuchthengst?

Ich schüttele den Kopf. Kann mir auch egal sein. Für mich ist die Sache gelaufen. Arndt hat seinen unwiderstehlichen Glanz verloren – auch wenn ich gerne noch die eine oder andere Stelle poliert hätte. Nein! Ich muss einen Haken dran machen. Ebenso an meine Beförderung. Verdammter Mist!

Wütend und enttäuscht knalle ich meinen Kaffeebecher auf den Tisch, als die Tür mit einem Wusch zufliegt. Dann rufe ich Gretchen an. Ich muss mir jetzt sofort eine Kippe bei ihr schnorren. Noch während ich die Nummer wähle, öffnet sich meine Bürotür erneut und Sylvia streckt ihren Kopf herein. „Ach, übrigens? Lulu?“

Ich schaue nur widerwillig auf. „Hm?“

„Du bist entlassen.“

Mir fällt spontan der Hörer aus der Hand.

0 Comments:

Kommentar veröffentlichen

Vielen Dank, dass du mir deine Zeit schenkst und zu diesem Post etwas sagen möchtest ♥