Mittwoch, 7. Februar 2024

.mammakarzinom | tagebucheintrag vom 01.01.2018

Angst bringt Klarheit. Angst bedeutet Lebenswille.
 
Zwei Sätze, die mir aus den Gesprächen mit meiner Psychoonkologin in Erinnerung geblieben sind. Zwei Sätze, die – jeder für sich – Entscheidendes in mir angestoßen haben. 


Mammakarzinom, das [ˈmamakaʁt͡siˈnoːm] Substantiv, neutrum
(der häufigste maligne Tumor der Frau)

Es ist merkwürdig, woran man sich erinnert. Und woran nicht. Ich kann noch genau sagen, wie das Wetter an jedem einzelnen Ereignistag war, welche Kleidung ich getragen habe, wer mir wann wo begegnet ist. 

Was die Beschreibung meiner Empfindungen und Gedanken angeht, ist die Rückschau schwammig. Vielleicht soll das so sein, damit bestimmten Dingen nicht mehr Aufmerksamkeit beigemessen wird als es gut und gesund für die Seele ist und sie mit höchstmöglicher Unbefangenheit heilen kann. Vielleicht ist es aber auch nur ein Verdrängungsmechanismus. Ich erinnere mich an so viele Nebensächlichkeiten, dass für die Tragödie kein mehr Platz bleibt.
 
| Donnerstag, 13. Juli 2017 
 
Ein hochsommerlicher Tag. Ich war dankbar, meinen jährlichen Vorsorgetermin morgens um sieben und danach noch genügend von meinem Urlaubstag zu haben. Dass alles anders kommen sollte, stand mit dem Stirnrunzeln meines Gynäkologen fest, als er während des routinemäßigen Abtastens der rechten Brust plötzlich innehielt. Eine Veränderung. Zur Abklärung des Tastbefundes vereinbarte er noch für den Nachmittag einen Termin zur Mammographie (Röntgenuntersuchung der Brust) und Mammasonographie (Brustultraschall).

Ich erinnere mich, dass ich viel zu früh in der Stadt und deshalb noch bei Douglas war. Wimperntusche kaufen. Dass ich bei KFC war und eine Burger Box gegessen habe. Wie verdammt lecker die war.

Ich erinnere mich jedoch nur vage an den Moment, als ich an diesem frühen Morgen vor meinem Auto stand und ungläubig auf die Überweisung für die Radiologie starrte. Genauso wie auf die Unterlagen, die mir die Arzthelferin am Nachmittag gab, nachdem die Radiologin während des Schallens den Verdacht meines Gynäkologen bestätigte. Dieser empfing mich dann am frühen Abend erneut in seiner Praxis und vereinbarte umgehend einen Termin zur Biopsie, nachdem er mich umfassend über das künftige Vorgehen aufgeklärt hatte. Von dem ich mir kaum etwas gemerkt habe.

Zu diesem Zeitpunkt belastete mich das alles tatsächlich nicht mehr als die Abklärung einer simplen Erkältung. 
 
| Freitag, 21. Juli 2017
 
Der Hochsommer hatte auch an dem Tag keine Pause eingelegt, an dem ich mich im Brustzentrum des Klinikums einfand. Bei der Stanzbiopsie wird Brust- und gegebenenfalls Lymphknotengewebe gewonnen. Das ist die Standardmethode für die Gewebeentnahme aus Knoten und Herdbefunden, die tastbar oder im Ultraschall sichtbar sind. Dazu wird eine etwa 1,5 mm dicke Hohlnadel mit einem Stanzgerät mit hoher Geschwindigkeit in die Brust geschossen und anschließend in einem Labor untersucht, um Brustkrebs auszuschließen. Oder zu bestätigen. 

Der Knoten in meiner Brust maß nur einen Zentimeter. Er war hart und unbeweglich, aber rund und glatt. Nicht nur die Optimistin in mir, auch das Fachpersonal war zuversichtlich, es handele sich um einen gutartigen Tumor. Das Ergebnis könne ich demnach bereits nach drei Tagen erfragen. Es dauerte zehn. Und ich war noch immer nicht beunruhigt.
 
| Dienstag, 1. August 2017
 
Fortwährend entspannt saß ich an diesem heißen Augusttag zwecks Besprechung des histologischen Befunds im Brustzentrum.

Die Ärztin bedauerte, dass ich auf das Ergebnis warten musste. Im Falle eines negativen Befundes hätte man mich natürlich zeitnah informiert. 

Das war der Moment, in dem sich die Rädchen in meinem Kopf zu drehen begannen, ineinandergriffen und die Maschine in Gang setzten.
 
Ich habe Krebs. 
 
Diese Erkenntnis transportierte mich für einige Stunden in eine Blase. Ich fühlte mich wie eine Zuschauerin in meinem eigenen Leben. Ich empfand Mitleid und tröstete die Menschen, die aufgrund meiner Diagnose weinten. Ich selbst war dazu nicht imstande.
 
| Dienstag, 8. August 2017
 
Es regnete, als ich zur stationären Aufnahme ins Klinikum ging. Es regnete während meines gesamten Aufenthalts. 

Während ich darauf wartete, mein Zimmer zu beziehen, maß eine Schwester meinen Blutdruck und nickte anerkennend ob meiner offensichtlichen Gelassenheit. Doch selbige schlug unerwartet um. Gefühle, die ich bis heute nicht spezifizieren kann, legten sich wie eine feuchte, kalte Hand in meinen Nacken, trieben mir Tränen in die und aus den Augen, als meine Psychoonkologin den Raum betrat. 

Abgesehen von den beiden oben genannten Sätzen kann ich mich kaum mehr an ihren Wortlaut erinnern. Wir sprachen kurz darüber, wie wichtig es sei, die Krankheit bei ihrem Namen zu nennen und sie als Teil meines Lebens anzuerkennen. Was ich tat. Im Gedächtnis blieb mir von diesem Morgen vor allem ihre Intentionalität in Bezug auf meine Beziehung, auf familiäre Bindungen, auf meine aktuelle Lebenssituation. Die Erkrankung sei Anstoß, über das nachzudenken, was ist und was sein könnte. Wie ich bin und wie ich sein möchte. Sie könne Klarheit schaffen und dazu anregen, Änderungen herbeizuführen. Der Endlichkeit des Lebens bewusst, sollte ich mich jetzt auf das konzentrieren, was mich glücklich macht, und aktiv zu meinem Glück beitragen. Der Nachsicht und des Verständnisses meiner Umwelt in dieser Situation sicher. Krebs als Freifahrtschein.

Diese mir bis dato völlig unbekannte Frau sprach alles an, was mich in den vergangenen zehn Jahren beschäftigte, umtrieb, durch und in die Depression führte. Im Grunde war sie der Anstoß und der Krebs die Kraft, die mich dorthin brachten, wo ich schließlich ankam.
 
| Mittwoch, 9. August 2017
 
Nachdem am Tag zuvor der Wächterlymphknoten sichtbar gemacht wurde, indem ein Tracer – also eine künstliche, oft radioaktiv markierte, körpereigene oder körperfremde Substanz, die nach Einbringung in den lebenden Körper am Stoffwechsel teilnimmt und darüber unterschiedlichste Untersuchungen ermöglicht oder erleichtert – ins Lymphsystem gespritzt wurde, um den nächstgelegenen Lymphknoten in der Nähe des Tumors zu identifizieren, und ich mich ausreichend über meerblaue Ausscheidungen lustig gemacht hatte, kam ich am späten Vormittag in den OP. Neben dem Mammakarzinom wurden zwei Lymphknoten entfernt, die nicht voneinander differenziert werden konnten. Der Tumor war raus aus meinem Körper. Den Krebs hatte ich abgehakt. Mein Fokus lag nun auf dem Thema Trennung und dessen Realisierung.
 
| Samstag, 12. August 2017
 
Ich durfte das Krankenhaus bereits drei Tage nach der OP verlassen. Kam zurück in die Wohnung, in der ich seit annähernd dreißig Jahren lebte, und fühlte mich nie weniger zuhause.
 
| Dienstag, 15. August 2017
 
Es war ein Sommer wie aus dem Bilderbuch – der Tag meiner gynäkologischen Nachsorge. Im Anschluss fuhr ich bei meiner Tante vorbei. Ich bin davon überzeugt – wie auch von allem anderen –, dass das Schicksal erneut einen Wegweiser für mich aufgestellt hatte. Die Kellerwohnung in ihrem Mietobjekt würde nächsten Monat frei werden. Meiner Intuition folgend, sagte ich sofort zu. 

Noch während wir bei Kaffee und Kuchen auf ihrer Terrasse saßen und über meine weitere Lebensplanung sprachen, erhielt ich einen Anruf der Klinik. Ich sollte mich noch am Nachmittag zum Befundgespräch einfinden. Aus der Formsache wurde schnell ein Schreckmoment. Krebszellen hatten sich vom Tumor gelöst und Tochtergeschwülste gebildet. Metastasen sind oft gefährlicher als der Tumor selbst. Dieser Gewissheit konnte auch ich mich nicht entziehen. Zum ersten Mal weinte ich – spät am Abend – eine Träne der Angst. Eine fucking einzige Träne.
 
| Mittwoch, 16. August 2017
 
Das Vertrauen in die Fähigkeit der behandelnden Ärzte und in das Schicksal, das mich auf einen Weg führte, nahm mir jegliche Angst und ersetzte sie durch beinahe trotzige Zuversicht. In einer weiteren OP wurden die beiden betroffenen und zehn weitere Lymphknoten entfernt. Zwei Tage später verließ ich das Krankenhaus und mental mein jetziges Leben.
 
| Montag, 21. August 2017
 
Die Sonne lachte und glich einem Omen, als ich mich im Strahlenzentrum einer Computertomografie von Thorax und Abdomen sowie einer Knochenszintigrafie unterzog. Wie die radioaktiven Moleküle sich in meinen Knochen ansammelten und das Skelett abbildeten, formierten sich meine Gedanken, lagerten sich ab und gaben mir eine genaue Vorstellung von dem, was nun zu tun war.

Nachdem ich am späten Nachmittag die erleichternde Gewissheit hatte, twitterte ich: Keine Metastasen mehr im Körper. Keine Monster mehr im Kopf. 

Am Abend teilte ich meinem Mann mit, dass ich mich trennen und ausziehen würde. Ich hatte mit allem gerechnet – Tränen, Schreie, Vorwürfe, Wutausbrüche –, aber nicht mit einem Achselzucken. 
 
| Samstag, 2. September 2017
 
Das Wetter hatte sich am Tag meines Auszugs auf Regen eingestellt. Doch in meinem Kopf schien hinter grauen Sorgen- und Kummerwolken die Sonne. Ich ging mit kaum mehr als dem, was ich am Leib trug. Die Kunst ist, aus dem alten Leben nur so viel mitzunehmen, dass die Erinnerung im neuen Leben nicht zur Last wird. Das habe ich eine Woche vor meinem Auszug getwittert – und mich daran orientiert. Mit der tatkräftigen Unterstützung meiner besten Freunde sowie Familie konnte der Umzug in weniger als einer Stunde abgeschlossen werden. Sie waren – und sind in großen Teilen nach wie vor – die mentale Unterstützung und der emotionale Rückhalt, für den ich unendlich dankbar bin und dessen Ausmaß mich noch heute überwältigt.
 
| Montag, 2. Oktober 2017
 
Nachdem mich meine beste Freundin zehn Tage zuvor zum Aufklärungsgespräch ins medizinische Versorgungszentrum begleitet hatte, begann meine Strahlentherapie. Durchgängig an jedem Werktag. Insgesamt 33 Sitzungen. Während dieser Zeit ging ich weiterhin meiner Arbeit in Vollzeit nach. Mein Chef und meine Kollegen und Kolleginnen waren großartig. Sie achteten darauf, dass ich mir nicht zu viel zumutete, vermittelten mir aber dennoch ein Gefühl von Normalität. 

Das Verhältnis zu meiner besten Freundin, meiner Tante und meinen Eltern wurde mit der Erkrankung noch inniger. Wir genießen meine neu gewonnene Freiheit, da wir uns nun endlich spontan verabreden und ohne unerwünschte Zuhörer quatschen können. Ich kann mich ohne schlechtes Gewissen mit Bekannten treffen und Twitterevents besuchen, die mir nicht vorher von meinem Mann madiggemacht wurden. 

Erst gegen Ende der Therapie wurden die Sitzungen körperlich anstrengender. Dennoch konnte ich nur selten über körperliche und keinen Tag über psychische Einschränkungen klagen.
 
| Dienstag, 19. Dezember 2017
 
Lange hatte ich mich dagegen gewehrt, hielt sie in meinem Fall für gänzlich überflüssig. Heute bin ich froh und dankbar, die Anschlussheilbehandlung auf Drängen meiner besten Freundin angetreten zu haben. Die Zeit für mich und meinen Körper war nötig. Das Schicksal sorgte dafür, dass ich ausschließlich auf Patienten traf, die über den gleichen Humor, die gleiche Einstellung und den gleichen Optimismus wie ich verfügten. Meine Abwesenheit über die Feiertage brachte mir Abstand und die nötige Ruhe vor einem möglichen, trennungsbedingten Konflikt. Es waren bereichernde drei Wochen. 

 
Resümee, das [ʁezyˈmeː] Substantiv, neutrum
(inhaltliche Zusammenfassung mit eigener Wertung)
 
Diese fünf Monate haben mich gefordert, lagen an manchen Tagen wie eine Zentnerlast auf meinen Schultern, zwangen mich jedoch nie in die Knie. Im Gegenteil. Sie machten meine Beine kräftiger. Ich stehe nun selbstsicherer meine Frau. Mit fast fünfzig habe ich voraussichtlich schon mehr Leben hinter als noch vor mir. Diese Zeit möchte ich allen Umständen zum Trotz möglichst uneingeschränkt glücklich verbringen. Zufrieden mit mir selbst. Auf meine Bedürfnisse achten, mich nicht mehr den Befindlichkeiten anderer unterordnen.

 
Das Mammakarzinom ist der häufigste bösartige Tumor der Brustdrüse des Menschen und kommt überwiegend bei Frauen vor. Etwa jede achte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Dank Früherkennung und verbesserter Therapien gelten inzwischen fast neunzig von hundert Frauen fünf Jahre nach der Diagnose als geheilt. Dennoch sterben mehr Frauen an Brustkrebs als an irgendeiner anderen Krebserkrankung. Die Vorsorge schützt nicht vor der Erkrankung. Doch je früher der Brustkrebs entdeckt wird, desto besser sind die Heilungschancen. Ich sage das nicht mit erhobenem Zeigefinger. Ich wünsche mir lediglich, dass durch meine Chronologie dieses Bewusstsein einen Platz im Gedächtnis findet.




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