Dienstag, 27. Februar 2024

.glücksklee | leseprobe

Du bist das CCS in meinem HTML.

Ein besoffenes Hausschwein, ein nervöser Ganter, ein altersschwacher Wolfshund und ein nerviger Job an der Hotline einer heruntergewirtschafteten Softwarefirma - das alles wäre für die rothaarige Tine, die mit achtunddreißig noch bei ihren Eltern lebt und den Tod ihres irischen Verlobten betrauert, zu verkraften gewesen.

Doch dann taucht Louis auf.

Während Tine die vermeintliche Braut ihres schwulen Freundes mimt, mit kriminalistischem Spürsinn einen Ehebruch aufdeckt, und sie der neue Mitbewohner in ein Chaos stürzt, ist auf zwei Dinge Verlass:

Ihre Freunde und die ominöse Onlinebekanntschaft Ironman.

KAPITEL eins


Die Flamme züngelt hungrig und gleitet sanft in ein Licht, dessen schwacher Schein sich fast zärtlich auf das Antlitz des jungen Mannes legt. In seinen grauen Augen glimmt unbändige Lebenslust, und die Art, wie er die Lippen schürzt, hat etwas Rebellisches.

„Colin“, seufze ich schwermütig. „Zehn Jahre. Zehn verdammt lange Jahre.“ Der Qualm meiner Zigarette steigt auf wie trister Nebel einer verlorenen Vergangenheit. „Was hast du dir nur dabei gedacht“, fahre ich leise fort, „du irischer Idiot?“ Ich starre das Foto auf der Kommode an, als erwarte ich wahrhaftig eine Antwort. Sekunden später piept mein Handy.

 

Es ist exakt dreizehn Minuten vor vier.

Es sind exakt zehn Jahre vergangen.

Das war exakt der Zeitpunkt seines Todes.

 

Meine Gedanken versinken in einem Meer aus Erinnerungen.

 

 

„Hey, pretty redhead irish angel“, drang eine sonore Stimme in mein Ohr und mir lief ein süßer Schauer über den Rücken, als ich das wohl charmanteste Lächeln erwiderte, das die Welt – auf jeden Fall aber ich – bislang gesehen hatte. „Ich bin so schlecht im Bett“, zwinkerte Colin, „das musst du erlebt haben!“

Und ich tat es noch in derselben Nacht. Wobei von schlecht weiß Gott nicht die Rede sein konnte. Colin schien Sex als eine Art Ausdauersport zu betreiben.

Von diesem Tag an war ich sein Mädchen. Colin war durch und durch Ire. Da von Mutter Natur weder mit rotem Haar noch mit blauen Augen ausgestattet und keinesfalls ein lausiger Liebhaber, setzte er alles daran, wenigstens den Rest althergebrachter Vorurteile am Leben zu erhalten: Iren waren erzkatholisch, unpünktlich, unzuverlässig, chaotisch, miserable Autofahrer und soffen wie der Leibhaftige. Ich liebte ihn trotz oder gerade wegen all dieser inszenierten Macken. Und dafür liebte er mich. So gaben und nahmen wir uns alle Freiheiten, die wir brauchten.

 

Colin war nie ein Romantiker gewesen. Und so kam es, dass er mir nach zehn wilden Ehejahren auf dem expressiven Höhepunkt eines Heavy-Metal-Events, rotzbesoffen, mit freiem Oberkörper auf der Theke stehend, einen Heiratsantrag machte. Sah ich ihm nach, ausnahmslos jedes Zimmer unserer kleinen Mietwohnung farblich patriotisch gestrichen zu haben, so konnte ich mich jedoch erfolgreich dagegen wehren, ein grasgrünes Brautkleid zu tragen. Damals lachte er und lallte nachgiebig: „Du hasss rooote Haare, pretty angel, du bisss ssso oder ssso meine O‘Brian!“ Thema vom Tisch.

 

 

Ich stehe auf, öffne die hinterste Tür meines Kleiderschranks und ertaste vorsichtig den Stoff. Ein Traum aus importierter italienischer und sündhaft teurer Seide, damals finanziert durch den Verkauf meines Motorrades. Ich hätte das Kleid ebenfalls verkaufen sollen, sagt mein Verstand. Doch der Erinnerungsstrom schwappt darüber hinweg. Colin hätte das Kleid gefallen... wäre er nicht in der Nacht seines Junggesellenabschieds mit annähernd drei Promille auf die Harley gestiegen. Warum er das exzessive Saufgelage so abrupt verlassen hatte, bleibt bis heute ungeklärt. Klar ist nur, dass er auf regennasser Straße die Kontrolle über seine Maschine verlor und gegen die Hauswand unserer örtlichen Postfiliale schleuderte. Das Gewicht seiner Harley brach Colin das Genick und zerquetschte seinen Körper mit der Wucht eines Eisenträgers auf Sachertorte. Um exakt dreizehn Minuten vor vier. Vor exakt zehn Jahren.

 

Nach einer letzten Berührung des zarten Gewebes lasse ich mich aufs Bett fallen und versinke in den Tiefen meines Langzeitgedächtnisses. Die Erinnerungen sind wunderschön und vermengen sich mit dem Schmerz des Verlusts, der nun schon eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen scheint. Außer Erinnerungen und ein paar alten Fotos ist mir nichts von Colin geblieben. Seine Eltern hatten nicht nur ihn, sondern auch all seinen persönlichen Besitz mit nach Irland genommen. Mir bleibt nur die Lücke, die er hinterlässt.

  

KAPITEL zwei

 

„Was?“, knurre ich, ohne aufzublicken. Ich befinde mich gerade in einer Hochkonzentrationsphase.

Nach zwei Stunden Seelenqual und gefühlten drei Liter Tränen war es an der Zeit, wieder in die Realität zurückzukehren. In meine Realität, wohlgemerkt.

Lennard brabbelt etwas von nicht normal und schließt die Tür. Er lehnt mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand und beäugt mich skeptisch. Meine Augen sind dick wie Kuheuter, doch er ist sensibel genug, schweigend darüber hinwegzusehen.

„Nicht normal ist“, murmele ich gleichmütig, „dass du dort stehst, während ich hier sitze.“

„Du schleppst das Ding wohl überall mit hin?“, ignoriert er meine Anspielung und verharrt weiterhin an Ort und Stelle.

Mir entfährt ein leicht genervtes Schnauben. „Was denkst du wohl, weshalb man es auch Schlepptop nennt?“ Mein Laptop heißt übrigens Rüdiger. Aber das verkneife ich mir.

„Was machst du überhaupt?“ Neugierig reckt Lennard den Kopf.

Ich liebe Lennard abgöttisch, aber in meiner momentanen Situation empfinde ich es als äußerst unangenehm. „Was wohl? Ich stricke am Ärmelkanal“, knurre ich deshalb, während meine Finger immer schneller über die Tastatur fliegen und BIOS-Dateien modifizieren.

„Du machst... was?“

„Gsch!“, fauche ich und hebe für den Bruchteil einer Sekunde die rechte Hand. Drei Minuten später entfährt mir ein verzücktes Jauchzen. „Ich hab‘s geschafft! Das System ist kompatibel! Endlich.“ Glücklich blicke ich zu Lennard auf.

Er jedoch zieht missbilligend die Augenbrauen nach oben. „Orgastisch, was?“ Seine Stimme hat einen verächtlichen Unterton.

„Lennard“, ich werfe noch einen Blick auf den Bildschirm. „Das ist wirklich, wirklich wichtig für mich, verstehst du?“

Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er nicht versteht.

„Seit einem halben Jahr pfriemeln wir an...“

„Wir?“ Lennard geht vor mir in die Hocke, als spräche er zu einem kleinen Kind. „Wir, Tine?“

Schmollend klappe ich meinen Laptop zu.

„Das hier“, sagt er und tippt bedeutend auf den silbernen Deckel, „ist doch sicher eigentlich wieder mal der Job deiner weitaus besser bezahlten Kollegen, die ihre Arbeitszeit lieber mit Kaffeetrinken...“

„Lass gut sein, Lennie“, unterbreche ich ihn barsch und schlage seine Einwände selbstzufrieden in den Wind. „Das hier ist nämlich der letzte Schritt auf meinem Treppchen nach oben. Oder denkst du, ich habe in den letzten zwanzig Monaten nur zu meinem Vergnügen Programmiersprachen gebüffelt und jede Woche mehr als zwölf Stunden EDV-Projektmanagement und Software-Engineering studiert, um meinen Abschluss als geprüfte Software-Entwicklerin zu erreichen und dann weiterhin in der Hotline zu arbeiten?“, rede ich mich in Rage.

„Ja, genau das denke ich, Tine.“ Lennard setzt sich auf den Rand der großen, weißen Badewanne, die stolz auf goldenen Klauenfüßen thront.

Ich ignoriere seinen besorgt prüfenden Blick. „Das hier wird mir einen Platz im Entwicklerteam sichern.“ Und damit auch eine saftige Gehaltserhöhung, füge ich im Stillen hinzu.

„Sagt wer?“ Lennard macht keinen sehr überzeugten Eindruck.

„Linda.“

„Linda“, wiederholt er und seine Lippen kräuseln sich. „Deine durchgeknallte Chefin. Soso.“

„Hey!“ Ich weiß sehr wohl, dass Lindas Geschäftsführung eigensinnig ist und mitnichten oftmals einiger Logik entbehrt, aber sie ist meine Vorgesetzte, was an sich schon ein gewisses Maß an Loyalität voraussetzt. „Linda hat eben ihren eigenen Stil, das Unternehmen zu führen. Und sie hat mir zugesichert...“

„Schriftlich?“, unterbricht mich Lennard mit inzwischen gerunzelter Stirn.

Verdutzt schiebe ich das Kinn zurück und stottere: „N-n-nein. Wieso? Sie hat mir ihr Wort gegeben. Und das würde sie nie brechen“, schiebe ich hastig hinterher.

„Na, dann“, seufzt Lennard und erhebt sich, „hoffen wir mal, dass sie bis dahin auch noch was zu sagen hat.“

Verdutzt starre ich ihm nach, wie er zur Dusche schlendert. „Was soll das denn schon wieder heißen? Len-naaard!“

„Im Keller haben sie erzählt“, erklärt er und streicht sich lässig das lange schwarze Haar in den Nacken, „dass sich Linda mit dem Geschäftskonto nach Brasilien abgesetzt hat.“

„Was?“, stoße ich ungläubig hervor. „Nie im Leben!“

Lennard zuckt gleichmütig mit den Schultern. „Wird halt erzählt.“

„Du glaubst auch echt jeden Scheiß, oder?“

Ein Grinsen umspielt seine Mundwinkel. „Ich sagte nicht, dass ich es glaube, Tine.“

„Aber?“

Die Antwort bleibt er mir schuldig. Stattdessen schiebt er sich lässig die Pyjamahose von der Hüfte und steigt in die Duschkabine.

„Ich sitze hier gerade...“

„Du bist doch sicher jetzt fertig?“, zwinkert er und dreht am Wärmeregler.

„Ja. Klar“, murre ich. Die Beine sind bereits taub und der Abdruck der Klobrille hat sich schon dauerhaft auf meinen Arschbacken verewigt. Ich stelle den Laptop auf die Kommode neben der Toilette, ziehe die Hose meines zerschlissenen Trainingsanzugs nach oben und drücke schadenfroh die Spülung. Lennards schmerzerfüllten Schrei nehme ich nur noch entfernt wahr, als die Temperatur seines Duschwassers abrupt in die Höhe schießt.

 

Eilends haste ich aus dem Badezimmer, die Treppen hinab, in die Küche. Dort erwartet mich Winifred, die kleine Sau. Meine Stimmung befindet sich aufgrund des Erfolgserlebnisses in Sachen Jobförderung nicht mehr ganz so nah am emotionalen Abgrund. Und Winifred bessert ohnehin meine Laune.

„Hi Süße“, begrüße ich Winifred, als sie auch schon freudig erregt auf mich zu stakst. „Wollen wir frühstücken?“

Sie grunzt zustimmend und überwacht nervös die ordnungsgemäße Zubereitung ihrer Mahlzeit, als Gunter, der Ganter, schnatternd auf den Tresen flattert.

„Hier, Kleiner.“ Ich schiebe ihm einen Unterteller mit geriebenen Karotten vor den Schnabel, reiche Winifred ihr Schälchen und ziehe meine Strickjacke über.

Mit der Kaffeetasse in der Hand warte ich geduldig, bis Minischwein und Gansmann gefrühstückt haben, öffne die schwere Eichentür und trete hinaus in den Hof, auf dessen Kopfsteinpflaster der Tau des lauen Oktobermorgens funkelt. Trotz seiner enormen Größe wirkt das über zweihundert Jahre alte Bauernhaus inmitten einer Wald- und Wiesenlandschaft warm und heimelig. Die Praxisräume meiner Eltern waren früher Kuhstall und Scheune und als solche von außen noch deutlich erkennbar. Die rustikale Einrichtung von Warte- und Behandlungszimmer stellt einen skurrilen Kontrast zu den hochsensiblen Apparaten und Hilfsmitteln der modernen und vielseitigen Veterinärmedizin dar.

 

Ich nehme auf der Bank zwischen den noch blühenden Astern Platz und beobachte Winifred liebevoll. Colin hatte nie Kinder gewollt. So schwer es mir damals auch fiel, akzeptierte ich seine Entscheidung, in der sicheren Annahme, er würde sie irgendwann revidieren und mit mir eine Großfamilie gründen. Dieses Irgendwann gibt es nun nicht mehr. Und meine biologische Uhr runzelt auch schon das Ziffernblatt.

 

Am Tag, an dem Colin vierzig geworden wäre, schenkte mir mein Vater Winifred, gerade mal zwei Monate alt und nicht größer als eine Ratte. Minischweine sind saubere Haustiere, die zum Kacken in den Garten gehen. In der Natur zählt Vorsicht und soziales Verhalten zu den wichtigsten Intelligenzaufgaben der Schweine, die übrigens in der Lage sind, bis zu hundert Befehle zu erlernen. Als Haustiere beweisen Schweine ihre soziale Ader, indem sie sich bedingungslos in die Familienhierarchie einfügen. Dieses ausgeprägte Sozialverhalten und ihr gemütliches Wesen macht sie zu einem idealen Therapeuten. Winifred sieht mich als Ersatz für die Wärme ihrer Rotte und ist deshalb äußerst anhänglich und verschmust. Der kleine Grunzer folgt mir beinahe überall hin.

 

„Guten Morgen, Tine. Urlaub heute?“ Pit schwingt sich geschmeidig von seinem gelben Rad, schiebt Winifred eine Zeitung in die Schnauze und kommt grinsend auf mich zu. „Bestimmt wegen des Umzugs, was?“

Er ist ja gut informiert. „Jepp“, antworte ich nickend und würge den Rest meines kalten Kaffees hinunter. „Hab heute frei.“

„Jede Menge Überstunden, was?“

Wieder antworte ich mit einer zustimmenden Kopfbewegung.

„Post für euch.“

Von einem Postboten habe ich zwar nichts anderes erwartet, lächle aber dankbar überrascht und strecke die Hand aus.

Pit, ein Zwei-Meter-Mann und beinahe genauso breit, beugt sich zu mir hinab und wirft einen gewaltigen Schatten. „Ganz wichtige Post, was? Aus Amerika.“ Wichtigtuerisch reicht er mir neben diversen Fachzeitschriften, Werbung, Geschäftsbriefen und der Telefonrechnung einen dicken Umschlag. „Hast du ein Angebot? Aus Amerika?“

Ich runzele die Stirn. Schön wär’s. „Nee, Pit. Ich tausche mit Bill Knibbelbildchen.“

„Bill? Bill Gates?“ Pits Augen weiten sich beeindruckt. „Wahnsinn!“

„Hmhm“, erwidere ich und beiße mir auf die Lippen.

 

„Wuff!“, dröhnt es blechern hinter Pit und ihm fällt vor Schreck fast die Brille von der Nase. Mister Little hat den Besucher endlich bemerkt und macht nun eindrucksvoll auf sich aufmerksam. Er ist alt, fast taub und seine Augen haben auch schon schärfere Zeiten gesehen. Dennoch ist der graue Irische Wolfshund mit einer Widerristhöhe von gut einem Meter, nach wie vor eine imposante Erscheinung. Sechzig Kilo geballte Kraft ersparten uns lange Jahre das Sicherheitsschloss an der Eingangstür. Heute würde er einen Einbrecher erst dann bemerken, wenn der uns bereits die Bude leergeräumt und eine Quittung dafür dagelassen hätte.

 

„Ejnen wunderschejnen guten Morgen, winsch ich, Frollejn Tine.“ Ja, klar. Es ist Dienstag und unsere polnische Putzfrau kommt dynamischen Schrittes auf uns zu.

Olgas Eintreffen als willkommene Entschuldigung nehmend, verabschiede ich mich vom enttäuschten Pit, der doch zu gerne gewusst hätte, wie Bill Gates nun wirklich so ist. Ich brauche jetzt dringend noch einen heißen Kaffee und meine Bachblütennotfalltropfen. Ich nehme sie immer dann ein, wenn ich mich, wie jetzt, betäubt von der Erinnerung fühle.

„Heute nicht bej Arbejt, Frollejn Tine?“ Olga kramt unter lautem Getöse ihre Putzutensilien aus dem Schrank und baut sie wie eine Division vor sich auf.

 

„Guuu-ten Mooor-geeen!“ Es klingt wie Singsang, als meine Mutter gut gelaunt in die Küche schlendert. Wobei anzumerken ist, dass meine Mutter fast alles kann – nur nicht singen. „Olga? Wären Sie so nett und würden heute mit dem Westflügel beginnen?“

Westflügel! Wenn ich das schon höre! Obgleich das zwei Stockwerke umfassende Haus über eine enorme Wohnfläche verfügt, finde ich die Flügelbezeichnungen nach Himmelsrichtung irgendwie anmaßend. Das hier ist schließlich nicht Tara.

Olga schultert ihr Arbeitsgerät. „Aber natierlich, Frau Glick! Is wegen Umzug, wos?“

„Hach“, seufzt Mama. „Ja. Meine kleine Ibo.“ Der Rest ihres Selbstmitleides drückt sich in Kopfschütteln aus.

„Sie ist einunddreißig“, murmele ich in meine Kaffeetasse. Ingeborg, von allen nur Ibo genannt, ist meine jüngere Schwester. Sieben Jahre jüngere Schwester, wohlgemerkt. Und ich halte es für längst überfällig, dass sie endlich auf eigenen Beinen steht und auszieht. Ich liebe Ibo, so wie ich alle meine Geschwister liebe. Während ich als Kind ein rechter Wirbelwind war – und im Übrigen auch immer noch so aussehe – kann man Ibo als Manifestation des Guten dieser Welt bezeichnen. Ihr langes, schwarzes Haar, das sich wie ein seidener Vorhang über ihre Schultern legt, die offenen, blauen Augen und die Zartgliedrigkeit, erinnern an Schneewittchen. Und dass die durch und durch gut war, wissen ja wohl alle.

 

Meine Mutter hat das gleiche, dunkelrote Haar wie ich. Es ist kurz und steht in alle Richtungen ab. Es ist egal, ob sie gerade aus dem Bett gefallen oder frisch gestylt ist. Sie sieht immer gleich aus. Bei mir ist das ähnlich. Nur dass meine Haare sich kringeln wie Korkenzieher und durch nichts bändigen lassen. Also gebe ich der Natur nach und lasse sie wachsen, wie sie wollen. Mit dem Ergebnis, dass mein Kopf aussieht wie eine Wildwiese und ich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Räubertochter Ronja habe. Anders als die kleine Rotznase, sind meine Augen jedoch in einem Grün, von dem man vermuten mag, dass es selbst im Dunkeln leuchtet. Tut es nur leider nicht.

 

„Schön, dass du dir extra heute freigenommen hast, um deiner Schwester beim Umzug zu helfen“, brabbelt meine Mutter vor sich hin, während sie sich einen Ich-bin-ja-so-gesund-Fruchtshake mixt. „Ist aber auch blöd, dass dein Vater ausgerechnet diese Woche zu dem Kongress musste. Und ich hab so viel in der Praxis zu tun. Die arme Ibo. Sie ist schon so nervös. Das erste Mal, ganz allein...“

Ich vermag nicht, sie zu unterbrechen. Ganz allein ist Ibo weiß Gott nicht. Sie und Cengiz ziehen in ein idyllisches Häuschen mit großem Garten, zentral gelegen, und es ist sicher nur noch eine Frage der Zeit, bis sie heiraten und für jede Menge deutsch-türkischen Nachwuchs sorgen.

„Weißt du, Schätzchen“, ruft sie über den Lärm des surrenden Mixers, „es macht mir schon ein wenig Sorge. Ich meine, Cengiz ist ein lieber, junger Mann, aber... nun ja, du weißt, wie leicht sich deine Schwester beeinflussen lässt.“

Ganz besonders von dir, sage ich lautlos und hole Luft, um zum Widerspruch anzusetzen, werde aber von einem weiteren Redeschwall überfahren.

„Sie ist doch so sensibel und, auch wenn sie immer das Gegenteil behauptet, weiß sie sich doch nicht richtig durchzusetzen. Du weißt doch, wie sensibel Ingeborg ist? Nicht wahr, Schätzchen? Du weißt es doch?“ Ihre Stimme zittert, und die Tatsache, dass sie Ibo bei ihrem vollen Namen nennt, zeigt mir, wie zerrissen ihr Inneres ist.

„Mama.“ Winifred grunzt verunsichert und ich sehe mich veranlasst, aufzustehen und meine Mutter in den Arm zu nehmen – wie ein kleines Kind, dem man die große, böse Welt erklärt. „Ich kenne Gizzy schon seit der Grundschule und...“

„Das ist es ja gerade“, fährt sie auf und donnert dabei mit ihrem Kopf gegen mein Kinn. Mir schießen Tränen in die Augen. „Weißt du, wie alt er schon ist?“

Gut. Das gibt mir nun wirklich Grund zum Heulen.

„Es ist doch nicht normal“, fährt sie fort, „dass ein Mann mit achtunddreißig noch nicht verheiratet ist. Irgendein Problem hat der doch?“

„Mama“, reibe ich mir das Kinn, „das Problem hast wohl eher du.“

„Ich möchte doch nur, dass sie glücklich wird. Ich möchte, dass alle meine Kinder glücklich sind. Und wenn Ibo jetzt auszieht, dann kann ich nicht mehr immer für sie da sein, wenn sie etwas bedrückt. Ihr könnt so alt werden, wie ihr wollt, aber ihr werdet immer meine kleinen Kinder bleiben.“ Mama senkt den Kopf. „Ich will doch nur auf euch aufpassen können.“ Da haben wir’s. Mit meiner Mutter ist es wie mit einem Dampfkochtopf: Wenn der Druck zu hoch wird, muss es raus.

Ich lächle gütig und setze mich wieder zu meiner Kaffeetasse. „Mama“, gebe ich der Sache einen erneuten Anstoß, „Ibo ist natürlich nervös. Man zieht ja nicht jeden Tag mit seinem Freund zusammen.“ Als meine Mutter nach Luft schnappt, hebe ich mahnend den Zeigefinger. „Aber ich weiß, dass es sehr gut überlegt ist. Und was ihr Durchsetzungsvermögen angeht, irrst du dich gewaltig. Als Grundschullehrerin hat sie wohl mehr als genug davon.“

Sie kräuselt einsichtig die Lippen.

„Du magst Gizzy doch auch.“ Ich nehme ihre Hand und suche ihren Blick. „Du weißt, wie gut er zu ihr ist. Cengiz ist seit über dreißig Jahren mein Freund. Seit über dreißig Jahren kommt er zu uns. Ich durfte sogar schon dreimal mit ihm und seinen Eltern in Urlaub fahren.“

Meine Mutter ringt sichtlich mit sich. „Jaaa. Ich weiß, dass er dein Freund ist.“

„Mein deutscher Freund mit türkischem Migrationshintergrund. Ja. Ist das dein Problem? Mama?“

Ein paar Sekunden zögerte sie, bevor sie energisch abwinkt. „Quatsch!“

 

„Ich werde weder Kopftuch tragen noch zum Islam übertreten“, klingt es lachend von der ersten Etage zu uns hinab, „sonst bin ich Gizzy nämlich schneller los als ich Döner sagen kann.“

Mama grinst verlegen. „So hab ich’s doch auch gar nicht gemeint.“

„Und wie dann?“ Ibo wuchtet einen Umzugskarton auf den Küchentisch und sieht unsere Mutter mit herausfordernder Miene an. „Na?“

Die kommt nun wirklich in Erklärungsnot. „Schatz“, streicht Mama ihrer Zweitgeborenen besänftigend über die Wange. „Für eine Mutter ist es immer schwer, ein Kind herzugeben.“

„Sie zieht doch nur aus“, stöhnt Lennard, der gleich drei Kisten auf einmal schleppt, „und wird nicht zur Adoption freigegeben, oder?“

„Sei nicht so vorlaut“, tadelt ihn Mama, „du wirst auch mal ausziehen und Kinder haben, die dann ausziehen, und dann weißt du, wie das ist. Und vielleicht“, schließt sie hoffnungsvoll, „kommt Ibo ja auch mal wieder nach Hause.“

„Na, da hoffe ich mal nicht“, füge ich bitter hinzu, „dass Gizzy sich zu diesem Zweck das Genick bricht.“

„Oh!“ Mama zuckt zusammen und wendet sich mir betroffen zu.

Ich habe keinerlei Bedürfnis, dieses Thema zu vertiefen, schnappe einen Umzugskarton und trage ihn in den Hof. Beim Hinausgehen kann ich Lennard noch flüstern hören: „Es war heute.“

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