Du bist das CCS in meinem HTML.
Ein besoffenes Hausschwein, ein nervöser Ganter, ein altersschwacher Wolfshund und ein nerviger Job an der Hotline einer heruntergewirtschafteten Softwarefirma - das alles wäre für die rothaarige Tine, die mit achtunddreißig noch bei ihren Eltern lebt und den Tod ihres irischen Verlobten betrauert, zu verkraften gewesen.
Doch dann taucht Louis auf.
Während Tine die vermeintliche Braut ihres schwulen Freundes mimt, mit kriminalistischem Spürsinn einen Ehebruch aufdeckt, und sie der neue Mitbewohner in ein Chaos stürzt, ist auf zwei Dinge Verlass:
Ihre Freunde und die ominöse Onlinebekanntschaft Ironman.
KAPITEL eins
Die
Flamme züngelt hungrig und gleitet sanft in ein Licht, dessen schwacher Schein
sich fast zärtlich auf das Antlitz des jungen Mannes legt. In seinen grauen
Augen glimmt unbändige Lebenslust, und die Art, wie er die Lippen schürzt, hat
etwas Rebellisches.
„Colin“, seufze ich schwermütig. „Zehn
Jahre. Zehn verdammt lange Jahre.“ Der Qualm meiner Zigarette steigt auf wie
trister Nebel einer verlorenen Vergangenheit. „Was hast du dir nur dabei
gedacht“, fahre ich leise fort, „du irischer Idiot?“ Ich starre das Foto auf
der Kommode an, als erwarte ich wahrhaftig eine Antwort. Sekunden später piept
mein Handy.
Es ist exakt dreizehn Minuten vor vier.
Es sind exakt zehn Jahre vergangen.
Das war exakt der Zeitpunkt seines Todes.
Meine Gedanken versinken in einem Meer aus
Erinnerungen.
„Hey, pretty redhead irish angel“, drang
eine sonore Stimme in mein Ohr und mir lief ein süßer Schauer über den Rücken,
als ich das wohl charmanteste Lächeln erwiderte, das die Welt – auf jeden Fall
aber ich – bislang gesehen hatte. „Ich bin so schlecht im Bett“, zwinkerte
Colin, „das musst du erlebt haben!“
Und ich tat es noch in derselben Nacht.
Wobei von schlecht weiß Gott nicht die Rede sein konnte. Colin schien
Sex als eine Art Ausdauersport zu betreiben.
Von diesem Tag an war ich sein Mädchen.
Colin war durch und durch Ire. Da von Mutter Natur weder mit rotem Haar noch
mit blauen Augen ausgestattet und keinesfalls ein lausiger Liebhaber, setzte er
alles daran, wenigstens den Rest althergebrachter Vorurteile am Leben zu
erhalten: Iren waren erzkatholisch, unpünktlich, unzuverlässig, chaotisch,
miserable Autofahrer und soffen wie der Leibhaftige. Ich liebte ihn trotz oder
gerade wegen all dieser inszenierten Macken. Und dafür liebte er mich. So gaben
und nahmen wir uns alle Freiheiten, die wir brauchten.
Colin war nie ein Romantiker gewesen. Und
so kam es, dass er mir nach zehn wilden Ehejahren auf dem expressiven Höhepunkt
eines Heavy-Metal-Events, rotzbesoffen, mit freiem Oberkörper auf der Theke
stehend, einen Heiratsantrag machte. Sah ich ihm nach, ausnahmslos jedes Zimmer
unserer kleinen Mietwohnung farblich patriotisch gestrichen zu haben, so konnte
ich mich jedoch erfolgreich dagegen wehren, ein grasgrünes Brautkleid zu
tragen. Damals lachte er und lallte nachgiebig: „Du hasss rooote Haare, pretty
angel, du bisss ssso oder ssso meine O‘Brian!“ Thema vom Tisch.
Ich stehe auf, öffne die hinterste Tür
meines Kleiderschranks und ertaste vorsichtig den Stoff. Ein Traum aus
importierter italienischer und sündhaft teurer Seide, damals finanziert durch
den Verkauf meines Motorrades. Ich hätte das Kleid ebenfalls verkaufen
sollen, sagt mein Verstand. Doch der Erinnerungsstrom schwappt darüber
hinweg. Colin hätte das Kleid gefallen... wäre er nicht in der Nacht seines Junggesellenabschieds
mit annähernd drei Promille auf die Harley gestiegen. Warum er das exzessive
Saufgelage so abrupt verlassen hatte, bleibt bis heute ungeklärt. Klar ist nur,
dass er auf regennasser Straße die Kontrolle über seine Maschine verlor und gegen
die Hauswand unserer örtlichen Postfiliale schleuderte. Das Gewicht seiner
Harley brach Colin das Genick und zerquetschte seinen Körper mit der Wucht
eines Eisenträgers auf Sachertorte. Um exakt dreizehn Minuten vor vier. Vor
exakt zehn Jahren.
Nach einer letzten Berührung des zarten
Gewebes lasse ich mich aufs Bett fallen und versinke in den Tiefen meines
Langzeitgedächtnisses. Die Erinnerungen sind wunderschön und vermengen sich
mit dem Schmerz des Verlusts, der nun schon eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen
scheint. Außer Erinnerungen und ein paar alten Fotos ist mir nichts von Colin
geblieben. Seine Eltern hatten nicht nur ihn, sondern auch all seinen
persönlichen Besitz mit nach Irland genommen. Mir bleibt nur die Lücke, die er
hinterlässt.
KAPITEL
zwei
„Was?“, knurre ich, ohne aufzublicken. Ich
befinde mich gerade in einer Hochkonzentrationsphase.
Nach zwei Stunden Seelenqual und gefühlten
drei Liter Tränen war es an der Zeit, wieder in die Realität zurückzukehren. In
meine Realität, wohlgemerkt.
Lennard brabbelt etwas von nicht normal
und schließt die Tür. Er lehnt mit vor der Brust verschränkten Armen an der
Wand und beäugt mich skeptisch. Meine Augen sind dick wie Kuheuter, doch er ist
sensibel genug, schweigend darüber hinwegzusehen.
„Nicht normal ist“, murmele ich
gleichmütig, „dass du dort stehst, während ich hier sitze.“
„Du schleppst das Ding wohl überall mit
hin?“, ignoriert er meine Anspielung und verharrt weiterhin an Ort und Stelle.
Mir entfährt ein leicht genervtes Schnauben.
„Was denkst du wohl, weshalb man es auch Schlepptop nennt?“ Mein Laptop
heißt übrigens Rüdiger. Aber das verkneife ich mir.
„Was machst du überhaupt?“ Neugierig reckt
Lennard den Kopf.
Ich liebe Lennard abgöttisch, aber in
meiner momentanen Situation empfinde ich es als äußerst unangenehm. „Was wohl?
Ich stricke am Ärmelkanal“, knurre ich deshalb, während meine Finger immer
schneller über die Tastatur fliegen und BIOS-Dateien modifizieren.
„Du machst... was?“
„Gsch!“, fauche ich und hebe für den Bruchteil
einer Sekunde die rechte Hand. Drei Minuten später entfährt mir ein verzücktes
Jauchzen. „Ich hab‘s geschafft! Das System ist kompatibel! Endlich.“ Glücklich
blicke ich zu Lennard auf.
Er jedoch zieht missbilligend die
Augenbrauen nach oben. „Orgastisch, was?“ Seine Stimme hat einen verächtlichen
Unterton.
„Lennard“, ich werfe noch einen Blick auf
den Bildschirm. „Das ist wirklich, wirklich wichtig für mich, verstehst du?“
Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er nicht
versteht.
„Seit einem halben Jahr pfriemeln wir
an...“
„Wir?“ Lennard geht vor mir in die Hocke,
als spräche er zu einem kleinen Kind. „Wir, Tine?“
Schmollend klappe ich meinen Laptop zu.
„Das hier“, sagt er und tippt bedeutend
auf den silbernen Deckel, „ist doch sicher eigentlich wieder mal der Job deiner
weitaus besser bezahlten Kollegen, die ihre Arbeitszeit lieber mit
Kaffeetrinken...“
„Lass gut sein, Lennie“, unterbreche ich
ihn barsch und schlage seine Einwände selbstzufrieden in den Wind. „Das hier
ist nämlich der letzte Schritt auf meinem Treppchen nach oben. Oder denkst du,
ich habe in den letzten zwanzig Monaten nur zu meinem Vergnügen
Programmiersprachen gebüffelt und jede Woche mehr als zwölf Stunden
EDV-Projektmanagement und Software-Engineering studiert, um meinen Abschluss
als geprüfte Software-Entwicklerin zu erreichen und dann weiterhin in der
Hotline zu arbeiten?“, rede ich mich in Rage.
„Ja, genau das denke ich, Tine.“ Lennard
setzt sich auf den Rand der großen, weißen Badewanne, die stolz auf goldenen
Klauenfüßen thront.
Ich ignoriere seinen besorgt prüfenden
Blick. „Das hier wird mir einen Platz im Entwicklerteam sichern.“ Und damit
auch eine saftige Gehaltserhöhung, füge ich im Stillen hinzu.
„Sagt wer?“ Lennard macht keinen sehr
überzeugten Eindruck.
„Linda.“
„Linda“, wiederholt er und seine Lippen
kräuseln sich. „Deine durchgeknallte Chefin. Soso.“
„Hey!“ Ich weiß sehr wohl, dass Lindas
Geschäftsführung eigensinnig ist und mitnichten oftmals einiger Logik entbehrt,
aber sie ist meine Vorgesetzte, was an sich schon ein gewisses Maß an Loyalität
voraussetzt. „Linda hat eben ihren eigenen Stil, das Unternehmen zu führen. Und
sie hat mir zugesichert...“
„Schriftlich?“, unterbricht mich Lennard
mit inzwischen gerunzelter Stirn.
Verdutzt schiebe ich das Kinn zurück und
stottere: „N-n-nein. Wieso? Sie hat mir ihr Wort gegeben. Und das würde sie nie
brechen“, schiebe ich hastig hinterher.
„Na, dann“, seufzt Lennard und erhebt
sich, „hoffen wir mal, dass sie bis dahin auch noch was zu sagen hat.“
Verdutzt starre ich ihm nach, wie er zur
Dusche schlendert. „Was soll das denn schon wieder heißen? Len-naaard!“
„Im Keller haben sie erzählt“,
erklärt er und streicht sich lässig das lange schwarze Haar in den Nacken,
„dass sich Linda mit dem Geschäftskonto nach Brasilien abgesetzt hat.“
„Was?“, stoße ich ungläubig hervor. „Nie
im Leben!“
Lennard zuckt gleichmütig mit den
Schultern. „Wird halt erzählt.“
„Du glaubst auch echt jeden Scheiß, oder?“
Ein Grinsen umspielt seine Mundwinkel.
„Ich sagte nicht, dass ich es glaube, Tine.“
„Aber?“
Die Antwort bleibt er mir schuldig.
Stattdessen schiebt er sich lässig die Pyjamahose von der Hüfte und steigt in
die Duschkabine.
„Ich sitze hier gerade...“
„Du bist doch sicher jetzt fertig?“,
zwinkert er und dreht am Wärmeregler.
„Ja. Klar“, murre ich. Die Beine sind
bereits taub und der Abdruck der Klobrille hat sich schon dauerhaft auf meinen
Arschbacken verewigt. Ich stelle den Laptop auf die Kommode neben der Toilette,
ziehe die Hose meines zerschlissenen Trainingsanzugs nach oben und drücke
schadenfroh die Spülung. Lennards schmerzerfüllten Schrei nehme ich nur noch
entfernt wahr, als die Temperatur seines Duschwassers abrupt in die Höhe
schießt.
Eilends haste ich aus dem Badezimmer, die
Treppen hinab, in die Küche. Dort erwartet mich Winifred, die kleine Sau. Meine
Stimmung befindet sich aufgrund des Erfolgserlebnisses in Sachen Jobförderung
nicht mehr ganz so nah am emotionalen Abgrund. Und Winifred bessert ohnehin
meine Laune.
„Hi Süße“, begrüße ich Winifred, als sie
auch schon freudig erregt auf mich zu stakst. „Wollen wir frühstücken?“
Sie grunzt zustimmend und überwacht nervös
die ordnungsgemäße Zubereitung ihrer Mahlzeit, als Gunter, der Ganter,
schnatternd auf den Tresen flattert.
„Hier, Kleiner.“ Ich schiebe ihm einen
Unterteller mit geriebenen Karotten vor den Schnabel, reiche Winifred ihr
Schälchen und ziehe meine Strickjacke über.
Mit der Kaffeetasse in der Hand warte ich
geduldig, bis Minischwein und Gansmann gefrühstückt haben, öffne die schwere Eichentür
und trete hinaus in den Hof, auf dessen Kopfsteinpflaster der Tau des lauen
Oktobermorgens funkelt. Trotz seiner enormen Größe wirkt das über zweihundert
Jahre alte Bauernhaus inmitten einer Wald- und Wiesenlandschaft warm und
heimelig. Die Praxisräume meiner Eltern waren früher Kuhstall und Scheune und
als solche von außen noch deutlich erkennbar. Die rustikale Einrichtung von
Warte- und Behandlungszimmer stellt einen skurrilen Kontrast zu den
hochsensiblen Apparaten und Hilfsmitteln der modernen und vielseitigen
Veterinärmedizin dar.
Ich nehme auf der Bank zwischen den noch
blühenden Astern Platz und beobachte Winifred liebevoll. Colin hatte nie Kinder
gewollt. So schwer es mir damals auch fiel, akzeptierte ich seine Entscheidung,
in der sicheren Annahme, er würde sie irgendwann revidieren und mit mir eine
Großfamilie gründen. Dieses Irgendwann gibt es nun nicht mehr. Und meine
biologische Uhr runzelt auch schon das Ziffernblatt.
Am Tag, an dem Colin vierzig geworden
wäre, schenkte mir mein Vater Winifred, gerade mal zwei Monate alt und nicht
größer als eine Ratte. Minischweine sind saubere Haustiere, die zum Kacken in
den Garten gehen. In der Natur zählt Vorsicht und soziales Verhalten zu den
wichtigsten Intelligenzaufgaben der Schweine, die übrigens in der Lage sind,
bis zu hundert Befehle zu erlernen. Als Haustiere beweisen Schweine ihre
soziale Ader, indem sie sich bedingungslos in die Familienhierarchie einfügen.
Dieses ausgeprägte Sozialverhalten und ihr gemütliches Wesen macht sie zu einem
idealen Therapeuten. Winifred sieht mich als Ersatz für die Wärme ihrer Rotte
und ist deshalb äußerst anhänglich und verschmust. Der kleine Grunzer folgt mir
beinahe überall hin.
„Guten Morgen, Tine. Urlaub heute?“ Pit
schwingt sich geschmeidig von seinem gelben Rad, schiebt Winifred eine Zeitung
in die Schnauze und kommt grinsend auf mich zu. „Bestimmt wegen des Umzugs,
was?“
Er ist ja gut informiert. „Jepp“, antworte
ich nickend und würge den Rest meines kalten Kaffees hinunter. „Hab heute
frei.“
„Jede Menge Überstunden, was?“
Wieder antworte ich mit einer zustimmenden
Kopfbewegung.
„Post für euch.“
Von einem Postboten habe ich zwar nichts
anderes erwartet, lächle aber dankbar überrascht und strecke die Hand aus.
Pit, ein Zwei-Meter-Mann und beinahe
genauso breit, beugt sich zu mir hinab und wirft einen gewaltigen Schatten.
„Ganz wichtige Post, was? Aus Amerika.“ Wichtigtuerisch reicht er mir neben
diversen Fachzeitschriften, Werbung, Geschäftsbriefen und der Telefonrechnung
einen dicken Umschlag. „Hast du ein Angebot? Aus Amerika?“
Ich runzele die Stirn. Schön wär’s. „Nee,
Pit. Ich tausche mit Bill Knibbelbildchen.“
„Bill? Bill Gates?“ Pits Augen weiten sich
beeindruckt. „Wahnsinn!“
„Hmhm“, erwidere ich und beiße mir auf die
Lippen.
„Wuff!“, dröhnt es blechern hinter Pit und
ihm fällt vor Schreck fast die Brille von der Nase. Mister Little hat den
Besucher endlich bemerkt und macht nun eindrucksvoll auf sich aufmerksam. Er
ist alt, fast taub und seine Augen haben auch schon schärfere Zeiten gesehen.
Dennoch ist der graue Irische Wolfshund mit einer Widerristhöhe von gut einem
Meter, nach wie vor eine imposante Erscheinung. Sechzig Kilo geballte Kraft
ersparten uns lange Jahre das Sicherheitsschloss an der Eingangstür. Heute
würde er einen Einbrecher erst dann bemerken, wenn der uns bereits die Bude
leergeräumt und eine Quittung dafür dagelassen hätte.
„Ejnen wunderschejnen guten Morgen, winsch
ich, Frollejn Tine.“ Ja, klar. Es ist Dienstag und unsere polnische Putzfrau
kommt dynamischen Schrittes auf uns zu.
Olgas Eintreffen als willkommene
Entschuldigung nehmend, verabschiede ich mich vom enttäuschten Pit, der doch zu
gerne gewusst hätte, wie Bill Gates nun wirklich so ist. Ich brauche jetzt
dringend noch einen heißen Kaffee und meine Bachblütennotfalltropfen. Ich
nehme sie immer dann ein, wenn ich mich, wie jetzt, betäubt von der Erinnerung
fühle.
„Heute nicht bej Arbejt, Frollejn Tine?“
Olga kramt unter lautem Getöse ihre Putzutensilien aus dem Schrank und baut sie
wie eine Division vor sich auf.
„Guuu-ten Mooor-geeen!“ Es klingt wie
Singsang, als meine Mutter gut gelaunt in die Küche schlendert. Wobei
anzumerken ist, dass meine Mutter fast alles kann – nur nicht singen. „Olga?
Wären Sie so nett und würden heute mit dem Westflügel beginnen?“
Westflügel! Wenn ich das schon höre! Obgleich
das zwei Stockwerke umfassende Haus über eine enorme Wohnfläche verfügt, finde
ich die Flügelbezeichnungen nach Himmelsrichtung irgendwie anmaßend. Das hier
ist schließlich nicht Tara.
Olga schultert ihr Arbeitsgerät. „Aber
natierlich, Frau Glick! Is wegen Umzug, wos?“
„Hach“, seufzt Mama. „Ja. Meine kleine
Ibo.“ Der Rest ihres Selbstmitleides drückt sich in Kopfschütteln aus.
„Sie ist einunddreißig“, murmele ich in
meine Kaffeetasse. Ingeborg, von allen nur Ibo genannt, ist meine jüngere
Schwester. Sieben Jahre jüngere Schwester, wohlgemerkt. Und ich halte es für
längst überfällig, dass sie endlich auf eigenen Beinen steht und auszieht. Ich
liebe Ibo, so wie ich alle meine Geschwister liebe. Während ich als Kind ein
rechter Wirbelwind war – und im Übrigen auch immer noch so aussehe – kann man
Ibo als Manifestation des Guten dieser Welt bezeichnen. Ihr langes, schwarzes
Haar, das sich wie ein seidener Vorhang über ihre Schultern legt, die offenen,
blauen Augen und die Zartgliedrigkeit, erinnern an Schneewittchen. Und dass die
durch und durch gut war, wissen ja wohl alle.
Meine Mutter hat das gleiche, dunkelrote
Haar wie ich. Es ist kurz und steht in alle Richtungen ab. Es ist egal, ob sie
gerade aus dem Bett gefallen oder frisch gestylt ist. Sie sieht immer gleich
aus. Bei mir ist das ähnlich. Nur dass meine Haare sich kringeln wie
Korkenzieher und durch nichts bändigen lassen. Also gebe ich der Natur nach und
lasse sie wachsen, wie sie wollen. Mit dem Ergebnis, dass mein Kopf aussieht
wie eine Wildwiese und ich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Räubertochter Ronja
habe. Anders als die kleine Rotznase, sind meine Augen jedoch in einem Grün,
von dem man vermuten mag, dass es selbst im Dunkeln leuchtet. Tut es nur leider
nicht.
„Schön, dass du dir extra heute
freigenommen hast, um deiner Schwester beim Umzug zu helfen“, brabbelt meine
Mutter vor sich hin, während sie sich einen Ich-bin-ja-so-gesund-Fruchtshake
mixt. „Ist aber auch blöd, dass dein Vater ausgerechnet diese Woche zu dem
Kongress musste. Und ich hab so viel in der Praxis zu tun. Die arme Ibo. Sie
ist schon so nervös. Das erste Mal, ganz allein...“
Ich vermag nicht, sie zu unterbrechen. Ganz
allein ist Ibo weiß Gott nicht. Sie und Cengiz ziehen in ein idyllisches
Häuschen mit großem Garten, zentral gelegen, und es ist sicher nur noch eine
Frage der Zeit, bis sie heiraten und für jede Menge deutsch-türkischen
Nachwuchs sorgen.
„Weißt du, Schätzchen“, ruft sie über den
Lärm des surrenden Mixers, „es macht mir schon ein wenig Sorge. Ich meine,
Cengiz ist ein lieber, junger Mann, aber... nun ja, du weißt, wie leicht sich
deine Schwester beeinflussen lässt.“
Ganz besonders von dir,
sage ich lautlos und hole Luft, um zum Widerspruch anzusetzen, werde aber von
einem weiteren Redeschwall überfahren.
„Sie ist doch so sensibel und, auch wenn
sie immer das Gegenteil behauptet, weiß sie sich doch nicht richtig durchzusetzen.
Du weißt doch, wie sensibel Ingeborg ist? Nicht wahr, Schätzchen? Du weißt es
doch?“ Ihre Stimme zittert, und die Tatsache, dass sie Ibo bei ihrem vollen
Namen nennt, zeigt mir, wie zerrissen ihr Inneres ist.
„Mama.“ Winifred grunzt verunsichert und ich
sehe mich veranlasst, aufzustehen und meine Mutter in den Arm zu nehmen – wie
ein kleines Kind, dem man die große, böse Welt erklärt. „Ich kenne Gizzy schon
seit der Grundschule und...“
„Das ist es ja gerade“, fährt sie auf und
donnert dabei mit ihrem Kopf gegen mein Kinn. Mir schießen Tränen in die Augen.
„Weißt du, wie alt er schon ist?“
Gut. Das gibt mir nun wirklich Grund zum
Heulen.
„Es ist doch nicht normal“, fährt sie
fort, „dass ein Mann mit achtunddreißig noch nicht verheiratet ist. Irgendein
Problem hat der doch?“
„Mama“, reibe ich mir das Kinn, „das
Problem hast wohl eher du.“
„Ich möchte doch nur, dass sie glücklich
wird. Ich möchte, dass alle meine Kinder glücklich sind. Und wenn Ibo jetzt
auszieht, dann kann ich nicht mehr immer für sie da sein, wenn sie etwas
bedrückt. Ihr könnt so alt werden, wie ihr wollt, aber ihr werdet immer meine
kleinen Kinder bleiben.“ Mama senkt den Kopf. „Ich will doch nur auf euch
aufpassen können.“ Da haben wir’s. Mit meiner Mutter ist es wie mit einem Dampfkochtopf:
Wenn der Druck zu hoch wird, muss es raus.
Ich lächle gütig und setze mich wieder zu
meiner Kaffeetasse. „Mama“, gebe ich der Sache einen erneuten Anstoß, „Ibo ist
natürlich nervös. Man zieht ja nicht jeden Tag mit seinem Freund zusammen.“ Als
meine Mutter nach Luft schnappt, hebe ich mahnend den Zeigefinger. „Aber ich
weiß, dass es sehr gut überlegt ist. Und was ihr Durchsetzungsvermögen angeht,
irrst du dich gewaltig. Als Grundschullehrerin hat sie wohl mehr als genug
davon.“
Sie kräuselt einsichtig die Lippen.
„Du magst Gizzy doch auch.“ Ich nehme ihre
Hand und suche ihren Blick. „Du weißt, wie gut er zu ihr ist. Cengiz ist seit
über dreißig Jahren mein Freund. Seit über dreißig Jahren kommt er zu uns. Ich
durfte sogar schon dreimal mit ihm und seinen Eltern in Urlaub fahren.“
Meine Mutter ringt sichtlich mit sich.
„Jaaa. Ich weiß, dass er dein Freund ist.“
„Mein deutscher Freund mit türkischem
Migrationshintergrund. Ja. Ist das dein Problem? Mama?“
Ein paar Sekunden zögerte sie, bevor sie
energisch abwinkt. „Quatsch!“
„Ich werde weder Kopftuch tragen noch zum
Islam übertreten“, klingt es lachend von der ersten Etage zu uns hinab, „sonst
bin ich Gizzy nämlich schneller los als ich Döner sagen kann.“
Mama grinst verlegen. „So hab ich’s doch
auch gar nicht gemeint.“
„Und wie dann?“ Ibo wuchtet einen
Umzugskarton auf den Küchentisch und sieht unsere Mutter mit herausfordernder
Miene an. „Na?“
Die kommt nun wirklich in Erklärungsnot.
„Schatz“, streicht Mama ihrer Zweitgeborenen besänftigend über die Wange. „Für
eine Mutter ist es immer schwer, ein Kind herzugeben.“
„Sie zieht doch nur aus“, stöhnt Lennard,
der gleich drei Kisten auf einmal schleppt, „und wird nicht zur Adoption
freigegeben, oder?“
„Sei nicht so vorlaut“, tadelt ihn Mama,
„du wirst auch mal ausziehen und Kinder haben, die dann ausziehen, und dann
weißt du, wie das ist. Und vielleicht“, schließt sie hoffnungsvoll, „kommt Ibo
ja auch mal wieder nach Hause.“
„Na, da hoffe ich mal nicht“, füge ich
bitter hinzu, „dass Gizzy sich zu diesem Zweck das Genick bricht.“
„Oh!“ Mama zuckt zusammen und wendet sich
mir betroffen zu.
Ich habe keinerlei Bedürfnis, dieses Thema zu vertiefen, schnappe einen Umzugskarton und trage ihn in den Hof. Beim Hinausgehen kann ich Lennard noch flüstern hören: „Es war heute.“
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