Donnerstag, 14. März 2024

.tante frieda | leseprobe

Der Kaiser, der König und die Tänzerin.

Beau, der [boː] Substantiv, maskulin 
(französisch beau, = der Schöne, lateinisch bellus = schön; gutaussehender, eitler Mann)

Die Autorin bietet ihren Leserinnen und Lesern mit diesem Roman zum ersten Mal die Erzählform aus Sicht zweier Protagonisten und eröffnet somit den Blick auf die Geschehnisse aus unterschiedlichen Perspektiven.

Mitwirkende sind neben Friederike ‚Rike‘, Mila und Anton Niedlich, Melissa Groß sowie Gregor König (Scheeschnittchen, Leevlütte, Öditussi) und Falk Kaiser (Scheeschnittchen), unter anderem auch Joseph ‚Joe’ Hunter (Pummelfee, Scheeschnittchen, Leevlütte, Öditussi) und Greta König (Scheeschnittchen, Leevlütte, Öditussi), Elias Kaiser (Scheeschnittchen, Leevlütte, Öditussi), Eric Thorvaldsson (Leevlütte, Öditussi) und Jakob und Lilli Maurer (Öditussi), Alexander Ander (Schwesterherz, Pummelfee, Scheeschnittchen, Leevlütte, Öditussi) und Evan Fitzpatrick (Scheeschnittchen, Leevlütte, Öditussi)

TANTE FRIEDA schließt an die Geschehnisse von ÖDITUSSI an.

Das Manuskript aus dem Jahr 2016 wurde ohne Änderungen übernommen und 2023 fertiggestellt.

Dieses Buch enthält erotische Inhalte und explizite Szenen, die ausschließlich für Leser:innen ab 18 Jahren geeignet sind. 

01   Gregor


Herbst 1985.


„Nicht dein Ernst“, stöhnte Hunter wie erwartet. „Gregor...“

„Eh. Keinen Stress, Mann.“ Ich legte ihm beschwichtigend die rechte Hand auf die Schulter. Ich wusste, dass Sepp alles andere als begeistert sein würde, dass ich ausgerechnet mit Greta zu seiner Abschiedsfeier auftauchte.

Natürlich war es auch mir nicht recht gewesen, meine sechzehnjährige Schwester in diese Lasterhöhle aus notgeilen Kiffern und planlosen Komasäufern über zwanzig mitzunehmen. Aber wie immer konnte ich der kleinen Nervensäge einfach keinen Wunsch abschlagen. Und er war mein bester Freund und hatte das zu akzeptieren. Punkt.

„Wieso, zum Teufel, bringst du deine kleine Schwester mit?“ Joseph verschränkte die Arme vor der Brust. „Haben deine Eltern denn keinen anderen Babysitter gefunden?“

„Ich bin sechzehn“, maulte Greta hinter meinem Rücken und ich starrte seufzend zur Decke, „und brauche ganz bestimmt keinen Babysitter mehr.“

Joseph verdrehte die Augen. „Der Kobold kann sprechen. Na, toll.“

„Nenn sie nicht immer so.“ Er konnte es einfach nicht lassen, dieser arrogante Arsch.

Warum war ich noch gleich mit ihm befreundet?

Joseph winkte uns mit einer Geste herein, ohne Greta eines Blickes zu würdigen.

Ach, ja. Joseph veranstaltete die geilsten Partys mit den schärfsten Bräuten der Umgebung. Deshalb, fiel es mir wieder ein.

 

Im Flur der gemischten WG in Köln-Ehrenfeld schlug uns bereits der alkoholgeschwängerte Rauch von Kippen und Joints entgegen und Bruce Springsteen schmetterte Born in the USA aus vier mannshohen Boxen.

„Gib mir deine Jacke“, brüllte ich gegen den Lärm aus Musik und Stimmen an. „Und dann suche dir einen Platz, wo ich dich im Auge habe, ja?“

Greta schürzte beleidigt die Lippen, schälte sich aus dem übergroßen Bundeswehrparka, den sie Papa abgeschwatzt hatte, und reichte ihn mir.

„Was zum...?“ Völlig fassungslos starrte ich sie an. Sie hätte sich mit Hirschgulasch behängt mitten in ein ausgehungertes Wolfsrudel stellen können. Der Effekt wäre definitiv derselbe.

Ich hatte der kleinen Nervensäge nachgesehen, dass sie heute Abend stundenlang das Bad blockierte, um ihrem widerspenstigen, roten Haar mithilfe von Lockenstab und mindestens einer halben Flasche Haarspray zu so etwas wie einer Frisur zu verhelfen. Missbilligend, aber gleichfalls kommentarlos sah ich zu, wie sie im Auto jede ihrer hübschen Sommersprossen abdeckte, ihre Augen mit schwarzem Eyeliner dramatisch umrandete und die Brauen mit einem Stift hervorhob. Erst als sie einen dunkelroten Lippenstift zückte, griff ich ein und beendete diese elende Maskierung.

Jetzt musste ich erkennen, dass meine kleine Schwester die wenigen Sekunden vor der Tür und hinter meinem Rücken genutzt hatte, um ihren weichen, mädchenhaften Mund in ein vor Lipgloss triefendes, blutrotes Lustobjekt zu verwandeln.

Gretas Outfit war eine Kampfansage. Sie trug Leggings unter geraffter Spitze, die wohl eher Vorhangsaum und kein Minirock war, dazu fingerlose Handschuhe im Style Madonna.

Beim Anblick ihres Dekolletés stockte mir vorübergehend der Atem. Meine kleine Schwester steckte in einem Mieder, das ihre winzigen Brüste so exorbitant nach oben schob, dass ich Sorge trug, sie könnten herauspurzeln. Den Abschluss ihres komplett schwarzen Outfits bildeten zahlreiche Armreifen an beiden Handgelenken, lange, baumelnde Ohrringe mit Kreuzen und mindestens fünfhundert Ketten mit religiösen Anhängern.

„Du siehst aus wie ein satanischer Weihnachtsbaum“, brüllte ich sie an und hätte am liebsten beide Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, würde das selbst bei einem 21-jährigen Prachtkerl wie mir nicht ziemlich uncool aussehen. „Normalerweise male ich ja mit Worten. Aber bei dir geht mir echt die Farbe aus.“

Gretas Kinn begann bereits zu beben, als Joseph im Vorbeigehen innehielt.

Er schob eine schwarze Augenbraue nach oben und grinste spöttisch. „Ich werd‘ verrückt! Der Kobold hat Brüste.“

„Klappe, Sepp.“ Ich warf meiner unschuldigen Schwester rasch den Parka über, unter dem sie ebenso schnell wieder hervor schlüpfte. Sie machte mich noch wahnsinnig!

„Wer hätte das gedacht“, raunte Joseph und biss sich auf die Unterlippe. Die eisblauen Augen gruben sich – zu seinem Glück – nur in Gretas Gesicht.

Ich wusste, dass ihr Anblick bei Hunter Fantasien anheizte, die ihn auf der Stelle hart werden ließen – und in denen meine kleine Schwester definitiv nichts zu suchen hatte.

Joseph hustete und unterdrückte offensichtlich einen auftretenden Fluchtreflex. Er kniff nie. Mit einundzwanzig Jahren und auf dem Höhepunkt seiner Potenz, hatte Hunter in dieser Saison bei Frauen bereits mehr Treffer versenkt als der 1. FC Köln im gegnerischen Tor. Joseph konnte alle haben. Meine kleine Schwester aber war ein absolutes Tabu für ihn.

Andernfalls würde ich ihn töten müssen.

In meinem jugendlichen Leichtsinn darauf vertrauend, dass sich Greta während der nächsten Stunden in eine Ecke zurückziehen und das Geschehen beobachten, und vor allem, dass Sepp seine Finger von ihr lassen würde, war ich dem Alkohol wohl ein wenig zu sehr zugetan und lehnte auch den Joint nicht ab, den mir dieser pickelige Kerl mit der wasserstoffblonden Vokuhila und den zwei toten Katzen unter den Achseln anbot. Zugegeben, es war mein erster.

Leider blieb es an diesem Abend nicht mein letzter. Gegen Mitternacht tauchte Helena auf. Die schöne Helena. Die verdammt heiße Helena. So heiß, dass ich mir gewiss nicht die Finger an ihr verbrennen würde, obgleich...

Ich wandte den Blick ab und nahm noch einen tiefen Zug. Für einen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben, oder zumindest langsamer zu verrinnen. Ich nahm Farben und Geräusche nun viel intensiver wahr.

„Gregor“, blies Helena mir mit engelsgleicher Stimme ans Ohr. „Möchtest du heute ein König sein?“

Ich schüttelte schwach den Kopf und zog erneut an dem dünnen Joint, der zwar weniger heiß brannte, dafür mehr THC lieferte.

Mein König?“

Ausnahmslos jede einzelne, verschissene Nervenzelle in meinem dämlichen Gehirn erzeugte winzige, elektrische Signale. Bestimmte Biochemikalien, die sogenannten Neurotransmitter, pendelten zwischen den Neuronen hin und her und transportierten diese Signale weiter, bis alle zur Verarbeitung und Speicherung einer Botschaft benötigten Schritte getan waren.

„Klar“, vermittelte ich schwerfällig mein Einverständnis, ihr ins Schlafzimmer zu folgen. Das war jedoch so ziemlich das Gegenteil von dem, was mir mein Verstand noch vor ein paar Stunden verbot. Sowohl meine Wachsamkeit als auch meine Zurechnungsfähigkeit ließen exponentiell mit Helenas unnachgiebiger Zuwendung und dem Genuss von Cannabis nach.

Scheiße.

„Sag mal“, raunte sie mir ins Ohr und schob mich auf das mit rosa Seide bezogene Bett zu. „Warum hast du mich in all der Zeit, die wir uns nun schon kennen, nicht ein einziges Mal angemacht?“

Ich zuckte vage mit den Schultern. Das Tetrahydrocannabinol vernebelte meine Sinne. Der Blutverlust in meinem Hirn, verursacht durch die gewaltige Erektion, die Helenas Berührung auslöste, tat ein weiteres. „Hm.“

„Du willst mich doch?“ Mit einem sanften Schubs brachte sie mich in die horizontale Lage. Meine Beine baumelten über den Rand der Matratze, während sie sich bereits am Verschluss meiner Jeans zu schaffen machte. „Es ist nicht zu übersehen.“

„Nein.“

„Sag ich doch.“ Helena befeuchtete ihre Lippen und ließ eine Hand in meinen Slip gleiten.

„Nein“, raunte ich erneut und packte ungeschickt ihren Arm. „Nein.“

„Nein?“

Ich schüttelte müde den Kopf und schloss die Augen. „Nein.“

„Nein“, stieß Helena lachend aus und erhob sich.

Ich konnte hören, wie sie eine Schublade öffnete und wieder schloss, sogar das Rascheln der Kleidung, die von ihrem perfekten Körper langsam zu Boden glitt. Und ich nahm deutlich den milden, leicht mineralischen Duft ihrer Erregung wahr.

„Geht nicht“, nuschelte ich und schnappte nach Luft, als ihre Zunge über meinen Bauch glitt.

„Du bist ja noch besser gebaut als...“

Ich versuchte, mein Gehör abzuschalten und den Gedanken, dass sie mich mit Sepp verglich, einfach auszublenden.

„Gefällt dir das?“ Ihre Zunge umkreiste meinen Bauchnabel, während sie langsam Jeans und Slip von meinen Hüften schob.

Meine Erektion donnerte auf ihr Dekolleté und sie nahm mit Freude zur Kenntnis, dass ich mich aufzurichten versuchte.

Versuchte, wohlgemerkt.

Die Mischung aus Cannabis und diversen Spirituosen machte mich schläfrig und kraftlos. „Kann nicht“, stöhnte ich und ließ mich zurück auf die rosa Seide fallen.

„Das haben wir gleich.“ Helena rutschte auf meinen Schoß, rieb ihre Scham an meinem Glied und beugte sich dann hinab, um mich zu küssen. Dabei schob sie mir die flache Tablette in den Mund, die zuvor zwischen ihren Zähnen klemmte.

„Was...?“

„Pschschsch“, machte sie und hielt mir eine Dose Cola an die Lippen.

Die Tablette lag auf meiner Zunge. Ich weigerte mich, sie zu schlucken.

Helena legte den Kopf schräg, griff hinter sich und packte meinen Schwanz. „Hm?“

Wieder hielt ich die Luft an, legte dann jedoch das Kinn auf meine Brust und trank die Dose halb leer. Dann öffnete ich den Mund, damit sie sah, dass ich die Tablette geschluckt hatte.

Zufrieden lächelnd hob sie ihren Po, um dann ungeduldig auf meiner Erektion hinabzugleiten.

Eine Veränderung meines Zustandes trat beinahe unmittelbar ein. Neben der erregenden Wirkung des Testosterons schüttete die für Lust und Belohnung zuständige Region in meinem Hirn vor allem Dopamin aus und versetzte mich sofort in Ekstase.

Die halluzinogene und aufputschende Wirkung allerdings war dem Ecstasy zuzuschreiben, das Helena mir sprichwörtlich untergeschoben hatte. Es erzeugte eine Veränderung meiner Wahrnehmung, ohne bewusstseinstrübend zu wirken. Gleichzeitig wurde mein Gefühlsleben beeinflusst: Die Veränderung der optischen und akustischen Wahrnehmung, des Raum- und Zeiterlebens und meines Reaktionsvermögens. Das Ecstasy hatte zudem eine tranceartige, entspannende und zugleich psychisch stimulierende Wirkung.

Ich spürte, wie sich mein Puls erhöhte und meine Körpertemperatur anstieg, als ich Helena auf den Rücken warf, meine Jeans abstreifte und sie fast bis zur Besinnungslosigkeit vögelte. Ihre scharfen Fingernägel gruben sich in meinen Rücken und hinterließen blutige Striemen. Ich fühlte den Schmerz nicht einmal.

Blackout.


„Rrrreda? Chrrreeeedaaaa? Fadammmmd!“ Benommen torkelte ich auf sie zu.

Helena hatte meine kleine Schwester an den Schultern gepackt und redete eindringlich auf sie ein. So wie sie es nur ein paar Minuten – ich dachte zumindest, dass es nur ein paar Minuten seien – zuvor bei mir getan hatte, als ich mich weigerte, eine weitere Pille einzuwerfen.

Ich versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Aber meine Füße machten einfach nicht mit. Ich stolperte und schlug der Länge nach auf. Mein Kinn pochte, als Joseph mir wieder auf die Beine half.

„Na, da ist ja der Missetäter schon“, spuckte Helena tiefste Verachtung aus. Ich schloss die Augen, öffnete sie jedoch einen Spalt, als sie fortfuhr: „Bist du eigentlich bescheuert, Sepp?“ Mit dem Kopf nickte sie bedeutungsvoll in Gretas Richtung.

Ich wollte nachhaken, doch alles was aus meinem Mund kam, klang klingonisch.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Joseph legte meinen Arm über seine Schulter und hielt mich am Handgelenk. Sein Kopf ruckte von Helena zu Greta. „Ich habe die ganze Zeit gepennt.“

 

Sommer 2015.

 

Als Greta den Streifenbus bemerkte, der direkt vor der Schnitte – unserem gemeinsamen Frisörsalon im Darmstädter Paulusviertel – zum Stehen kam, stürmte sie bereits um die Theke und riss die Eingangstür auf. „Evan?“

Die Unterlippe ihres besten Freundes war aufgeplatzt, eine Blutspur zog sich über sein Kinn.

„Tut mir leid“, antwortete er und blieb in der Tür stehen.

Ihre Stimmlage verriet mir, dass meine kleine Schwester nur einen Zeptometer davorstand, hysterisch zu werden. „Was ist denn passiert? Hattet ihr einen Unfall?“

„Evan schon. Irgendwie.“ Elias, Gretas Sohn, drängte uns ungeduldig in den Salon. „Er ging leider dazwischen.“

„Wozwischen?“

„Gregor und Joe.“

„Bitte?“ Greta schob sich an Evan vorbei. „Gregor?“

Ich hatte ihr noch immer den Rücken zugewandt.

„Tut mir leid, Greta. Ich hätte es mir ja eigentlich denken können“, knurrte Evan.

„Du kannst doch nichts für.“ Mein Neffe klopfte ihm tröstend die Schulter.

„Nein.“ Die Wut überrollte mich wie ein Sturm. „Er kann nichts dafür. Aber du.“

„Was?“

Ich drehte mich zu Greta, meiner kleinen Schwester, meinem Augenstern, um und sah sie an.

Mein linker Wangenknochen war geschwollen und schimmerte bereits in Rosa, Lila und Blau. Genau wie mein Kinn. Und meine Nase. Darüber hatte Elias mich ungebeten informiert. Das Blut hatte ich mir nur nachlässig vom Gesicht gewischt. Um meine rechte Hand war ein Kühlbeutel gelegt und notdürftig mit einem Tuch fixiert. Doch all die Blessuren, die Wunden, die Schmerzen, waren nichts im Vergleich zu dem, was sie meiner Seele angetan hatte.

„Warum hast du mich angelogen, Greta?“ Ich hatte Mühe, meine Stimme unter Kontrolle zu halten. „Warum hast du mir nie gesagt, was auf dieser Party passiert ist?“

Greta zögerte. Dann trat sie einen Schritt zurück und fauchte mich wütend an. „Das fragst du noch? Sag mal, merkst du noch was?“

„Warum, Greta?“ Ich spürte die Ader an meinem Hals pulsieren, mein ganzer Körper vibrierte vor Zorn.

„Genau darum, du blöder Idiot! Genau so und nicht anders hättest du schon vor dreißig Jahren reagiert. Und diese Demütigung hätte ich nicht auch noch ertragen.“ Ihre grünen Augen füllten sich mit Tränen.

Augenblicklich wich diese ungezügelte Wut einem tiefen Mitgefühl und inniger Liebe. „Ach, Gretchen. Ich wollte dich doch immer nur beschützen.“

„Ich glaube nicht“, mischte sich überraschend Peer, einer ihrer Stammkunden, ungefragt ein, „dass Greta damit einverstanden gewesen wäre. Ich meine, irgendwann musste sie doch mal ihre Jungfräulichkeit verlieren?“

„Aber nicht an meinen besten Freund“, brüllte ich ihn an.

Peer legte erschrocken den Rückwärtsgang ein.

„Entschuldigung“, murmelte ich zähneknirschend und tätschelte ihm die Schulter.

„Bruder vor Luder. Check!“

Alle starrten wir Peer an.

„Ich glaube“, räusperte sich Greta und schob den Kunden Richtung Tür, „du gehst jetzt besser mal.“

„Es tut mir leid, Greta“, sagte ich und meinte es auch so.

„Es tut dir leid?“ Sie stemmte zornig die Hände in die Hüfte. „Gar nichts tut dir leid, Gregor. Das Ganze ist dreißig Jahre her. Ihr seid erwachsene Männer. Und trotzdem prügelst du dich mit deinem ach so tollen besten Kumpel in einem Boxclub, in dem ihr jetzt wahrscheinlich auch noch Hausverbot habt?“

„Mum“, merkte Elias zerknirscht an und ich verdrehte die Augen. „Bis zum Club kamen wir gar nicht.“

„Jetzt sag mir bitte nicht“, hämmerte sie mit dem Zeigefinger unsanft auf meine Brust, „ihr habt euch wie Teenager auf der Straße geprügelt?“

Unsere verschämten Mienen bestätigten ihre Befürchtung.

Greta schwieg. Ihrem Gesicht sah ich jedoch an, dass sie sich wohl Sorgen um Joe machte. Das waren hoffentlich die letzten Prügel, die ich heute einstecken musste.

Es war ihr bester Freund Evan, der die unausgesprochene Frage beantwortete, indem er sagte: „Joch- und Stirnbein sind nur geprellt.“

„Ich kann es echt nicht glauben“, keuchte Greta kopfschüttelnd. Ihre Wangen glühten vor Wut und Fassungslosigkeit. „Wie kann man wegen so einem Blödsinn so...“ Sie fuchtelte auf der Suche nach Worten unkoordiniert mit den Händen in der Luft. „Du bist fünfzig Jahre alt, Gregor. Da sollte man doch erwachsen genug sein?“

„Wir haben das wie Männer geklärt“, argumentierte ich überzeugt.

„Indem ihr euch geprügelt habt?“

„Genau.“

Mit den Fingerspitzen tippte sie mir nachdrücklich an die Stirn. „Bist du völlig bescheuert? Hat Hunter dir vielleicht das Hirn rausgeprügelt?“

„Nein“, ranzte ich sie ungewollt an. „Aber ich habe mir den Frust von der Seele geprügelt. Und jetzt ist es gut.“

„Es ist gut?“ Sie schnappte nach Luft und kräuselte die Nase. „Sag mal? Hast du getrunken?“

„Während wir auf die Polizei gewartet haben“, tratschte Elias zufrieden grinsend, „saßen er und Joe nebeneinander auf der Straße und haben sich in harmonischer Zweisamkeit den Rest vom Single Malt geteilt.“

Greta funkelte mich wütend an. Selbst ihr rotes Haar glühte. „Geh mir bloß aus den Augen, Gregor. Sonst vergesse ich mich noch.“

Ich beugte mich zu ihr hinab und küsste liebevoll ihre zarte Wange. „Das tue ich, Gretchen. Mit Sepp ist alles geklärt. Aber wir beide müssen uns demnächst mal dringend unterhalten.“


Kurz zuvor.

 

Außer mir vor Wut und Enttäuschung, war ich in Hunters neu eröffnetes Tattoostudio im Darmstädter Villenviertel gestürmt und hatte ihn brüllend aufgefordert, unverzüglich mit mir nach draußen zu kommen. Ursprünglich waren wir mit den Jungs zum Boxercise verabredet.

„Kannst du mir mal verraten, was los ist“, fragte mein bester Freund völlig perplex.

Ich antwortete prompt – mit der geballten Faust in seine Magengrube.

Joe blieb für zwei Sekunden die Luft weg. Er sackte in die Knie.

„Verfluchte Scheiße“, keuchte Evan und stellte sich schützend vor ihn. „Was soll der Mist?“

Joseph und ich waren Freunde seit Kindertagen. Er genoss mein uneingeschränktes Vertrauen. Ich hielt ihm den Rücken frei, wenn er mal wieder die falsche Frau gevögelt und sich danach vor einem tobenden Vater oder gehörnten und prügelwilligen Partner zu rechtfertigen hatte. Ich sah ihm sogar nach, dass er Helena vögelte, obwohl er zu dem Zeitpunkt bereits wusste, wir verrückt ich nach ihr war.

Greta, meine kleine Schwester, zart und unschuldig – war das einzige Tabu. Ein Versprechen. Und Joe hatte es gebrochen.

Ich war blind vor Zorn und drängte mich mit geballten Fäusten und Gewalt an Evan vorbei.

„Na, toll“, stöhnte der kurz auf und hielt sich den Mund.

„Komm hoch“, brüllte ich Joe an. „Sofort!“

Er reagierte nicht, blieb weiterhin auf einem Knie und blickte zu Boden. „Lass das, Kumpel. Das ist früher schon nie gut ausgegangen.“

Früher. Wie gut, dass du es ansprichst. Kumpel.“ In diesem Augenblick, in dieser Stimmung, war ich zu allem bereit. „Und jetzt steh, verdammt noch mal, auf und sieh mir ins Gesicht.“

Seufzend erhob sich Joe.

„Sag mir, dass du meine Schwester niemals angerührt hast.“ Ein Funken Hoffnung glomm.

„Shit“, hörte ich Evan leise zischen.

Joe schwieg.

„Nichts? Du sagst nichts dazu?“

Nein. Tat er nicht.

Und der Funken erlosch.

„Du hast es geschworen.“ Meine Stimme tremolierte. „Auf unsere verdammte Freundschaft hast du geschworen, meine kleine Schwester nie, wirklich niemals anzurühren.“ Ich packte ihn am Ausschnitt seines T-Shirts.

Joe legte sacht die Finger um mein Handgelenk. Eine stille Bitte um Vergebung? Am Arsch!

Meine Rechte traf ihn unvermittelt an der Schläfe. Joe schwankte. „Scheiße, Mann“, brüllte er und riss die linke Faust nach oben.

Er erwischte mich am Kinn. Doch keine Sekunde später erschütterte ein weiterer Faustschlag seine Schläfe. Rasend vor Wut hämmerte ich auf meinen besten Freund ein. Joe wehrte die Schläge überwiegend ab, traf mich unter dem linken Auge und mit dem Ellenbogen direkt auf die Nase.

Ich ignorierte das warme Blut, das mir stetig auf die Oberlippe tropfte. „Du hast meine kleine Schwester entjungfert und sie...“

„Halte du dich da raus, Elias“, unterbrach er mich keuchend.

Doch Elias wollte sich überhaupt nicht einmischen. „Die Nachbarn haben gerade die Polizei gerufen“, teilte er uns achselzuckend mit.

„Verdammt. Ja. Ich habe Scheiße gebaut“, sagte Joe endlich und sah mir fest in die Augen. „Ich habe Greta von diesem Kiffer weggeholt, der sie flachlegen wollte.“

Skeptisch hielt ich inne. Es sah Sepp nicht ähnlich, dass er sich rausredete.

„Du warst ja schon seit Stunden mit Helena beschäftigt.“

Diese Aussage rüttelte eine Erinnerung wach und ich lockerte meinen Griff. Betroffen und von Schuldgefühlen übermannt, trat ich einen halben Schritt zurück.

„Ich wusste nicht, dass sie noch Jungfrau war.“ Joe blickte zu Elias hinüber und machte eine Faust, bei der er Daumen und kleinen Finger spreizte, inoffiziell anerkanntes sowie allgemein geläufiges Zeichen für Bring-uns-mal-den-Whisky-raus.

„Statt mit diesem Miststück zu vögeln, das mein halbes Leben versaut hat“, ich holte tief Luft, „hätte ich auf meine kleine Schwester aufpassen sollen.“

„Und auf deinen besten Kumpel.“

Ich runzelte die Stirn.

„Du warst schon immer der Vernünftige von uns beiden. Und ich...“

Ich wischte das Blut unter der Nase mit dem Handrücken weg und nahm die Flasche Single Malt entgegen. Meine Fingerknöchel liefen bereits violett an. „Alter, du hast keine Ahnung, wie viel mir meine kleine Schwester bedeutet. Wenn es um Greta geht, habe ich mich einfach nicht unter Kontrolle.“

„Ich auch nicht“, seufzte Joe, nahm die Whiskyflasche zurück und leerte sie in einem Zug.

 

02   Rike


„Und, Kleines? Wie war es?“

„Gut.“ Ich schalte den Lautsprecher ein und lege das Smartphone auf der kleinen Sitzbank im Flur neben mir ab. „Recht amüsant. Der Eröffnung haftete in der Tat ein Hauch von Die Meute der Erben an.“

Anton lacht. „Wirklich?“

„Ja. Allerdings ohne doppelläufige Schrotflinte und Maulwurfshügel.“

„Schade.“

„Hmhm“, seufze ich. „Ziemlich langweilig, unser Job.“

 

Mein Name ist Friederike Niedlich und ich bin Steuerberaterin. Alles, was ich weiß und kann, habe ich von Anton gelernt. Meinem großen Bruder. Er ist Experte. Ich bin sein Schützling.

Auf die Frage, was ein Steuerberater eigentlich so tut, antworten wir in der Regel, dass wir Steuererklärungen erstellen und Menschen in steuerrechtlichen Fragen beraten. Dass unsere Aufgaben wesentlich komplexer und abwechslungsreicher sind, weiß wohl kaum jemand. Als Steuerberater arbeiten wir mit verschiedenen Klienten zusammen: Gewerbe, Freiberufler und Privatpersonen. In deren Namen übernehmen wir die Buchhaltung und Lohnabrechnungen, erstellen Jahresabschlüsse für Bilanzen, Einnahmenüberschussrechnungen und natürlich auch Steuererklärungen. Zudem vertreten wir Mandanten vor Finanzbehörden, Finanzgerichten und in Steuerstrafrechten.

Einen Großteil unserer Arbeitszeit verbringen wir jedoch mit Beratungsleistungen in Fragen der Steuergestaltung und Einsparungsmöglichkeiten, gleichermaßen bei Firmengründungen und Firmensanierungen. Wir stellen Gutachten aus und nehmen Unternehmensbewertungen vor. Was wohl kaum jemand weiß, ist, dass ein Steuerberater auch eine Testamentseröffnung durchführen kann. Ich hatte heute meine erste.

Anton macht den Job seit über zwanzig Jahren. Und er macht ihn verdammt gut. In seiner Steuerberatungskanzlei in Köln kümmert er sich mit seinen inzwischen sieben Mitarbeitern um Mandanten aus den verschiedensten Wirtschaftsbereichen.

Meinem großen Bruder habe ich es zu verdanken, dass ich heute mein eigenes Steuerbüro führen kann. Einen Ausbildungsberuf zum Steuerberater gibt es nämlich nicht. Nur wer mit viel Geduld und eisernem Willen lernt und seine Absicht unnachgiebig verfolgt, kann erfolgreich sein. Mehrere Wege führen zum Ziel. Ich hatte das Glück, an einer der größten Fakultäten für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften meinen Hochschulabschluss machen zu können und damit die Praxisphase nach der Ausbildung zur Steuerfachangestellten auf drei Jahre zu verkürzen, bis ich zum Examen zugelassen wurde. Mit einer Durchfallquote von rund fünfzig Prozent ist die Prüfung zum Steuerberater eine der wohl anspruchsvollsten in Deutschland. Dennoch, oder gerade deswegen, darf ich behaupten, dass auch ich meinen Job verdammt gut mache. Sagt Anton. Und mein großer Bruder hat immer Recht.

„Und wie läuft’s bei dir so?“

„Hervorragend, Kleines. Hervorragend.“

Ich halte beim Schnüren meiner Laufschuhe inne und blicke bekümmert auf das Smartphone. Ich sehe das kantige Gesicht meines Bruders – mit den ausgeprägten Kieferknochen und dem energischen Kinn, mit dieser beneidenswert aristokratisch geraden Nase. Himmelblaue Augen funkeln omniszient unter roten Brauen. Wir haben beide das auffällig kupferfarbene Haar. Doch während es sich in weichen Wellen um Antons Nacken schmiegt, sträuben sich meine winzigen Locken mit aller Macht dagegen, auch nur im Ansatz einer Frisur zu ähneln.

„Du gehst also immer noch jeden Morgen um halb sieben ins Büro und kommst vor zehn nicht nach Hause, was Iris aber ohnehin nicht interessiert?“

„Korrekt.“

„Warum trennt ihr euch nicht?“

„Darauf“, er schluckt hörbar, „läuft es wohl hinaus.“

Anton und Iris kennen sich seit ihrer Studienzeit und sind etwa schon genauso lange ein Paar. In mir sah sie immer nur einen Eindringling. Dies umso mehr, als ich nach dem Tod unserer Schwester Henriette die Verantwortung für die damals erst drei Monate alte Mila übernahm. Damit ich dieser Aufgabe gerecht werden konnte, hängte ich meine Ballettschuhe an den Nagel und hielt mich zunächst mit Jobs an der Stange über Wasser. Bis Anton mir gegen Iris’ Willen vorübergehend einen Teil der Verantwortung abnahm und dadurch ein Jurastudium ermöglichte. Die beiden haben keine Kinder – und das ist wahrlich auch gut so. Selbst der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un wäre eine bessere Mutter als Iris. Das ist der Grund, weshalb ich unmittelbar nach meiner Bestellung zur Steuerberaterin mit Mila fortging, um zweieinhalb Autostunden von Köln entfernt dieses schnuckelige Häuschen mit separatem Büro zu kaufen.

„Wie läuft es mit Melissa?“

Ich stehe auf und überprüfe den korrekten Sitz meiner Schuhe. „Hervorragend.“

Anton seufzt resigniert. „Sie bringt also immer noch jeden Abend einen anderen Kerl mit nach Hause?“

„Nicht jeden Abend“, schwäche ich Melissas abwechslungsreiche Herrenbekanntschaften ab. „Von einigen konnte ich mir sogar die Namen merken.“

„Ich werde noch einmal mit ihr sprechen. Das...“

„Nein“, unterbreche ich ihn sanft. „Wirst du nicht. Das ist auch überhaupt nicht nötig. Mila liebt Melissa, und sie achtet darauf, dass Mila nicht zu häufig einem ihrer Besucher begegnet. Außerdem“, füge ich hinzu und atme tief ein, „ist Mila kein kleines Kind mehr.“

„Wie lange bleibt sie noch?“

„Etwa zwei Monate.“

Melissa ist siebenundzwanzig und unsere Cousine mütterlicherseits. Sie studiert Biologie im Fachbereich Biowissenschaften mit Forschungsschwerpunkt Zell- und Neurobiologie an der Charité in Berlin. Zurzeit absolviert sie ein Gastsemester an der Goetheuniversität Frankfurt, weshalb sie vorübergehend das Gästezimmer bei mir bewohnt. Die einstündige Zugfahrt von hier bis an die Uni in Frankfurt nutzt sie, wie sie sagt, zum Wachwerden und Akklimatisieren. Was bei ihren ausschweifenden Freizeitaktivitäten durchaus notwendig und sinnvoll scheint.

„Machst du gerade Feierabend?“

„Ja“, antworte ich mit Nachdruck und lege mir die Smartphonetasche an. „Ich habe einen überschaubaren Kundenstamm, der es mir ermöglicht, mich noch täglichen Freizeitaktivitäten zu widmen.“

„Schwesterchen? Du gehst um halb acht eine Stunde joggen, danach unter die Dusche und ins Bett. Das nennst du Freizeit?“

„Immerhin laufe ich nicht vor...“

Anton stößt einen unartikulierten Laut aus. „Ganz anderes Thema, Kleines. Ich lege jetzt auf, damit du Laufen kannst. Du weißt Bescheid?“

„Ja“, erwidere ich und lege ein Lächeln in meine Stimme. „Ich dich auch.“ Mit einem Wisch übers Display beendete ich das Telefonat, stöpsele die Kopfhörer ins iPhone und stecke es in die Tasche an meinem Oberarm.

Zeit zu Laufen.

Ich liebe diese Art der Bewegung nicht nur, ich brauche sie. Mein Körper lechzt danach. Ausdauertraining wirkt sich auf meinen Hormonhaushalt aus. Während des Trainings werden neben Testosteron mehr Endorphine produziert, Cortisol, bekannt als Stresshormon, im Gegenzug abgebaut. Nach etwa zwanzig Minuten steigen die Hormonspiegel von Dopamin und Adrenalin stark an und wirken sich so auf die Kommunikation der Hirnareale aus. Neueren Studien zufolge führt regelmäßiges Lauftraining zu einer deutlichen Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit und zur Verbesserung der Stimmungslage. Das Gehirn bildet neue Nervenzellen. Es zeigen sich Auswirkungen auf Kreativität und logisches Denkvermögen.

Abschalten. Loslassen. 

Ich laufe seit meinem fünfzehnten Lebensjahr täglich. Mit Erfahrung und der Kondition steigt auch die Fähigkeit des Laufens ohne zu Denken. Bereits nach wenigen Metern schaffe ich es, alle temporären Gedanken auszuschalten. Ich komme auf völlig neue Ideen, sehe Dinge aus einem anderen Blickwinkel. Diese gleichmäßige Bewegungsausführung beim Laufen führt dazu, dass ich mich in einem leichten, geistigen Rausch befinde. Manchmal gelingt es mir mit einem deutlichen Anstieg der Endorphinkonzentration im Körper, den Zustand des Runners High zu erlangen, welcher am treffendsten als eine Art Schwerelosigkeit mit unendlicher Kraft und Leichtigkeit zu beschreiben wäre. In jedem Fall hat das Laufen positiven Einfluss auf Persönlichkeitsmerkmale wie Durchhaltevermögen, Ehrgeiz, Selbstbewusstsein und Selbstwahrnehmung. Neben der positiven Wirkung auf das körperliche, geistige und seelische Gleichgewicht ist gerade das in meinem Job und meinem Leben als alleinerziehende Tante verdammt wichtig.

Es ist zwar möglich, aber nicht sinnvoll, nach einer hohen sportlichen Belastung übergangslos in den Ruhezustand zu wechseln. Also laufe ich nach über einer Stunde intensiven Joggens noch einige Minuten langsam aus. Das Herz pumpt auch im Ruhezustand längere Zeit weiter auf Hochtouren. Meine Wangen glühen. Der Schweiß auf meiner Stirn hat ein paar Strähnen aus dem festen Zopf gelockt, die sich jetzt widerspenstig in alle Richtungen kräuseln.

„Verlaufen?“

„Wie bitte?“ Ich drehe mich um und begegne dem Mann mir gegenüber mit einem gesunden Maß an Misstrauen. Ich habe zwei Selbstverteidigungskurse belegt und würde nicht zögern, meine erworbenen Kenntnisse unter Beweis zu stellen.

„Wow.“ Er hebt in einer friedfertigen Geste die Hände. „Ich hatte nicht vor, Sie zu überfallen. Also, bitte tun Sie mir nichts.“ Auf mein Stirnrunzeln hin fügt er erklärend hinzu: „Sie sehen mich immer noch an, als wären Sie versucht, mir eine Demonstration ihrer Fertigkeiten aus dem Selbstverteidigungskurs geben.“

Ich bin schwach beeindruckt. „Wirklich?“

„Sie können gerne meinen Puls fühlen.“

„Mm“, knurre ich. Mit diesem Satz hat er sich leider ins Aus geschossen.

„Ähm.“ Er räuspert sich und betrachtet die Schnürsenkel seiner teuren Laufschuhe. „Damit habe ich gerade alles verdorben. Stimmt’s?“

„Stimmt.“ Eben nicht. Er hat es soeben deutlich relativiert, denke ich und verkneife mir ein Schmunzeln.

Mein Gegenüber massiert sich mit dem Daumenballen die gerunzelte Stirn. „Wie wäre es“, fragt er schließlich und legt den Zeigefinger auf seine Lippen, „wenn ich noch einmal in den Wald gehe, zurückkomme und...“

„Wozu denn dieser Aufwand?“ Ich schaue mich betont nach allen Seiten um und lasse meinen Zeigefinger bedeutsam in der Luft kreisen. „Ist hier irgendwo eine Kamera? Oder bewerben Sie sich für den Award zum politest runner alive?“

Augen in fünf Schattierungen von Grau funkeln mich amüsiert an. „Das nicht“, antwortet er und sein Lächeln offenbart ein Gebiss, bei dessen Anblick jedem Dentisten das Herz vor Begeisterung höherschlagen würde. „Wobei diese Auszeichnung durchaus eine Überlegung wert wäre.“

„Aha.“ Ich lege beide Hände in die Hüften, spreize die Beine und dehne die Oberschenkel, um die Auskühlung meiner Muskeln zu verhindern.

„Allerdings halte ich es für wesentlich erstrebenswerter“, er legt eine Kunstpause ein, neigt den Kopf zur Seite und betrachtet mich neugierig, „ein paar Minuten Ihrer Aufmerksamkeit zu gewinnen.“

Ohne in meinen Dehnungen innezuhalten, hebe ich eine Braue und sehe ihn scharf an.

„Klingt nach einer ziemlich üblen Anmache, was?“ Er verzieht schmerzvoll das Gesicht. „Leider bin ich total aus der Übung.“

„Verheiratet?“

„Nie gewesen“, schüttelt er den Kopf und beginnt ebenfalls, seine Muskeln zu dehnen. „Was ungeachtet dessen nicht zwangsläufig zu zwischenmenschlicher Inkontinenz außerhalb der trauten Zweisamkeit führen würde. Oder sollte. Sie?“

„Was?“

„Verheiratet?“

„Nie gewesen“, antworte ich genauso und fische den Autoschlüssel aus meinem Laufgürtel.

Mein Gegenüber räuspert sich, presst die Lippen aufeinander und streckt dann die Hand aus. „Ich heiße Falk.“

Mein Blick fällt auf seine Hand, dann auf sein Gesicht.

„Falk Kaiser. Und Sie?“

Ich ergreife seine Hand. Sein Griff ist angenehm fest. „Ich nicht.“ Mit einem Augenzwinkern drehe ich mich um und gehe zu meinem Wagen.

Falk Kaiser stößt ein amüsiertes Schnauben aus und blickt mir nach, bis er nur noch ein Punkt in meinem Rückspiegel ist.


Ich passe das Lauftraining meinem individuellen Tagesablauf an. Oft gehe ich schon früh los, noch während Mila schläft, und bringe Frühstück mit. Das lässt mir genug Raum nach hinten für anliegende Arbeiten im Büro und im Außendienst.

„Müsli? Mann...“ Stöhnend sinkt Mila am nächsten Morgen auf den Küchenstuhl und rührt nur mäßig begeistert in der Schüssel mit Haferflocken, Trockenobst und Joghurt. „Warst du denn nicht Laufen?“

„Heute Abend“, schabe ich geschäftig mit den Fingerspitzens über meine Stirn und reiche ihr einen frisch gepressten Orangensaft.

„Hast du nicht neulich gesagt, das ist doof, weil damit dein ganzer Abend am Arsch ist?“

Konsterniert schiele ich über den Küchentresen. „Nein. Habe ich nicht.“

„Doch. Du hast dich nur anders ausgedrückt.“

Ich tue ihren Einwand mit einem Kopfschütteln ab. Als ob ich mein Lauftraining nur auf den Abend verlegen würde, um die Chancen zu erhöhen, Falk Kaiser noch einmal zu begegnen? Blödsinn.

„Oder hast du ein Date, von dem wir nichts wissen sollen?“ Melissa schlurft gähnend in die Küche. „Bekomme ich deine biodynamische Pampe, Mila-Schätzchen?“ Sie hält ihr eine Tüte unter die Nase. „Im Tausch gegen frische Buttercroissants?“

„Da fragst du noch?“ Mila schiebt die Schüssel beiseite und reißt ihr die Tüte aus der Hand. „Wo hast du die denn her?“

„Hat Eminem noch besorgt“, sagt sie und schiebt sich den ersten Löffel Müsli in den Mund. „Aber ich sagte ihm, Frühstück ist nicht.“

„Eminem“, wiederhole ich naserümpfend. „Der Typ hieß Eminem?“

„Nein“, nuschelt Melissa und nimmt einen Schluck von Milas Orangensaft. „Ich habe keine Ahnung, wie er hieß.“ Sie sagt das in einem Ton, als könne sie sich nicht mehr daran erinnern, wem sie ihren leeren Einkaufwagen überlassen hatte. „Er hat nicht viel geredet. Was definitiv auch besser war. Mit seiner Zunge hat er dafür...“

„Melissa?“

„Oh“, räuspert sie sich. „Entschuldige.“

Mila grinst, schnappt sich ein Croissant und beginnt, es von einem Ende zum anderen mit schamlosen Zungenbewegungen abzulecken.

Ich verdrehe die Augen und tippe betonend auf mein Handgelenk. „Zwanzig Minuten, Mila. Verpass den Bus nicht. Ich kann dich heute nicht fahren. Gleich kommt ein Mandant.“

 

Als ich am Abend meinen Mercedes vor dem Waldstück abstelle, bin ich beinahe enttäuscht, keinen anderen Wagen auf dem Parkplatz zu sehen. Na ja. Was heißt, beinahe? Ich bin es.

Ich scrolle eine Weile durch meine Playlists, werde schließlich fündig, stöpsele die Kopfhörer ein und laufe los. Der minimalistische Beat aus einer Mischung von Rave, Dubstep und House dröhnt in meinen Ohren und treibt mich an. Sonst höre ich gar nichts, ich fühle nur. Und daher bemerke ich natürlich auch, dass mir seit der letzten Weggabelung jemand folgt. Unbeirrt, jedoch achtsam, laufe ich weiter.

 

„Lieber Himmel“, stöhnt mein Verfolger, als wir nach einer Stunde den Parkplatz erreichen. Er beugt sich vornüber, die Hände auf seine Oberschenkel gestützt, und atmet schwer. Falk. „Legen Sie immer so ein Tempo vor?“

Ich zucke mit den Schultern. „Ich wollte Sie beeindrucken.“

„Ach, ja?“

„Nein. Das war gelogen.“

Er richtet sich auf und lächelt. Einnehmend. Charismatisch. Five Shades of Grey funkeln mich freundlich an. „Respekt.“

Ich sage nichts.

„Okay“, beginnt er von Neuem, nachdem er wieder zu Atem gekommen ist. „Ich bin Falk. Und wie ist Ihr Name?“

Ich stoße ein leises Lachen aus und reiche ihm die Hand. „Rike. Friederike Niedlich.“

„Niedlich“, wiederholt er und sein linker Mundwinkel zuckt.

„Ja“, greife ich allen Unkenrufen vor. „Ich weiß. Niedlich.“

Anton ist nicht nur drei Jahre älter als ich, sondern mit Einmeterachtundneunzig auch im übertragenen Sinn mein großer Bruder. Im Gegensatz zu ihm und unserer verstorbenen Schwester Henriette, die Einmeterneunundsiebzig maß, schlage ich echt total aus der Art: Einmeterfünfundfünfzig, knapp fünfundvierzig Kilo, Kleidergröße 32, Körbchengröße A. Wirklich niedlich, nicht wahr?

„Sehen Sie das denn nicht als Vorteil?“

„Vorteil?“ Ich beginne wieder mit ein paar leichten Dehnübungen und Falk macht es mir nach.

„Aufgrund Ihrer Statur“, mit einer Handbewegung zeichnet er meinen Körperumfang nach, „und mit diesem Namen werden Sie leicht unterschätzt. Das kann nur...“

„...von Vorteil sein“, beende ich seinen Satz. „Ich weiß.“

Er nickt kurz und ich nehme das anhaltende Schweigen zum Anlass, mich zu verabschieden. Falk soll nicht denken, ich hätte auf sein Kommen gehofft. „Herzlichen Dank, Falk Kaiser, für die nette Unterhaltung. Schönen Abend noch.“

Erneut nickt er stumm, doch ein Lächeln nistet in seinem Mundwinkel. „Friederike? Rike?“

Die Stimme erreicht mich, als ich bereits an meinem Wagen bin und gerade die Tür öffne.

„Sehen wir uns morgen wieder?“

„Warum sollten wir?“

Sein Lächeln wird breit und die grauen Augen funkeln mich einladend an. „Weil wir uns dann wieder unterhalten und besser kennenlernen könnten.“

„Ich frage noch mal: Wieso sollten wir?“

Er schiebt die Hände in die Taschen und macht einen halben Schritt nach vorn. Sein Lächeln wirkt wie ein Apell, als er besonnen mit den Schultern zuckt und augenzwinkernd antwortet: „Wieso nicht?“

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