Samstag, 9. März 2024

.scheeschnittchen | leseprobe

Weil das Gretchen weiß, wo der Frosch die Locken hat.

 

Plötzlich knallt die Vergangenheit in dein Leben wie ein Tischfeuerwerk...

 

Die erste große Liebe hat ihren ganz eigenen Zauber und hält sich für immer in unserer Erinnerung.

 

Doch was, wenn sie nach dreißig Jahren plötzlich wieder vor dir steht?

 

Greta betreibt gemeinsam mit ihrem frisch geschiedenen Bruder Gregor einen kleinen Frisörsalon in der Stadt, hat einen erwachsenen Sohn, eine leichtlebige Tochter und sich zudem nach zwei gescheiterten Beziehungen mit einem Leben als Single arrangiert. Daran ändert auch Evan, der charismatische Lehrer nichts. Aber das hat er auch gar nicht vor. Vielmehr steht er ihr zur Seite, als plötzlich die Vergangenheit in Gretas Leben knallt wie ein Tischfeuerwerk.

 

Neben neuen Charakteren, wie der taffen rothaarigen Greta und ihren erwachsenen Kindern Elias und Emma, ihrem großen Bruder Gregor und dem sympathischen neuen Freund Evan, treffen wir in dieser Geschichte auch altbekannte Gesichter aus SCHWESTERHERZ (2013) und PUMMELFEE (2014) wieder: Nele und Leo, Fee und Nils, Nina und Alex sowie Joe in einer vermeintlichen Doppelrolle.

 

Missverständnis, das [ˈmɪsfɛɐ̯ˌʃtɛntnɪs] Substantiv, n

(unabsichtliches falsches Verstehen, falsches Interpretieren einer Aussage oder Handlung)

 

Alles ist anders. Nicht nur anders, als Greta denkt.

 

Die Autorin beschränkt sich nicht mehr nur auf die Erzählform aus Sicht der Protagonistin, sondern entführt ihre Leser immer wieder in kleinen Etappen zu den Geschehnissen außerhalb ihres Wahrnehmungsbereichs.

 

Mittendrin und auch dabei.

 

Scheeschnittchen schließt an die Geschehnisse des Romans Pummelfee aus dem Jahr 2015 an. 

 


schee [sche:] Adjektiv <hessisch>

(von einem Aussehen, das so anziehend auf jemanden wirkt, dass es als wohlgefällig, bewundernswert empfunden wird; in seiner Art besonders reizvoll, ansprechend, sehr angenehm oder wohltuend auf das Auge wirkend; von einer Art, die jemandem sehr gut gefällt, die jemandes Geschmack entspricht; in einer Weise verlaufend, die angenehme Gefühle auslöst)

 

 

PROLOG

 

Köln-Ehrenfeld, 1985

 

„Nicht dein Ernst?“ Joseph warf den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und stöhnte verärgert auf.

„Gregor...“

„Keinen Stress, Mann.“ Der einundzwanzigjährige Gregor legte seinem gleichaltrigen Freund beschwichtigend eine Hand auf die Schulter.

„Wieso, zum Teufel, bringst du deine kleine Schwester mit?“ Joseph verschränkte die Arme vor der Brust. Die Ärmel seines T-Shirts spannten an den mächtigen Oberarmen, die bereits mit zahlreichen bunten Tattoos geschmückt waren. „Haben deine Eltern denn keinen anderen Babysitter gefunden?“

„Ich bin sechzehn und brauche ganz bestimmt keinen Babysitter mehr.“ Greta tat ihren Unmut hinter Gregors Rücken zornig kund.

Joseph verdrehte die Augen. „Der Kobold kann sprechen. Na, toll.“

„Nenn sie nicht immer so“, bat Gregor und trat einen Schritt zur Seite. 

Er seufzte und winkte die beiden mit einer Geste hinein, ohne den ungebetenen Gast eines weiteren Blickes zu würdigen. 

 

Im Flur der gemischten WG in Köln-Ehrenfeld schlug ihnen alkoholgeschwängerter Rauch aus einer Mischung von Kippen und Joints entgegen, Bruce Springsteens Born in the USA dröhnte aus vier mannshohen Boxen.

„Gib mir deine Jacke“, brüllte Gregor gegen den Lärm der Musik und Stimmen an. „Und dann suche dir einen Platz, wo ich dich im Auge habe, ja?“

Greta schürzte verärgert die Lippen, schälte sich aus dem übergroßen Bundeswehrparka, den sie ihrem Vater abgeschwatzt hatte, und reichte ihn Gregor.

„Was zum...?“ Er starrte seine Schwester an, als hätte sie sich inmitten eines ausgehungerten Wolfsrudels mit Hirschgulasch behängt. 

 

Gregor hatte ein Nachsehen, als sie stundenlang das Bad blockierte, um ihrem knallroten Haar mithilfe eines Lockenstabs und einer halben Flasche Haarspray zu einer Frisur zu verhelfen. Denn statt es wie üblich zu einem Pferdeschwanz zu binden, hatte sie ein überdimensionales Spitzenband unterhalb des Haares im Nacken platziert, die Enden zur Stirn gezogen und eine riesige Schleife auf dem Kopf geknotet.

Missbilligend, aber gleichfalls kommentarlos hatte er zugesehen, wie sie im Auto letzte Hand an ihr Make-up legte, jede ihrer hübschen Sommersprossen abdeckte, ihre außergewöhnlich grünen Augen mit schwarzem Eyeliner dramatisch umrandete und die roten Brauen mit einem Stift hervorhob. Als sie einen dunkelroten Lippenstift zückte, gebot er ihr endlich Einhalt. 

Jetzt musste er erkennen, dass seine kleine Schwester die wenigen Sekunden vor der Tür und hinter seinem Rücken genutzt hatte, um ihren weichen, mädchenhaften Mund in ein vor Lipgloss triefendes, blutrotes Lustobjekt zu verwandeln.

 

Gretas Outfit war eine Kampfansage. Sie hatte es satt, immer nur Gregors kleine Schwester zu sein und war fest entschlossen, das hier und heute zu ändern. Zu diesem Zweck trug sie Leggings unter geraffter Spitze, die eher als Vorhangsaum denn als Minirock durchgegangen wäre, dazu Ankleboots und fingerlose Handschuhe. 

Beim Anblick ihres Dekolletés stockte Gregor vorübergehend der Atem. Greta steckte in einem Mieder, das ihre kleinen Brüste so gewaltig nach oben schob, dass er Sorge trug, sie könnten heraus purzeln.

Den Abschluss ihres komplett in Schwarz gehaltenen Outfits bildeten zahlreiche Armreifen an beiden Handgelenken, baumelnde Ohrringe mit Kreuzen und mindestens fünfhundert Ketten mit unterschiedlichen religiösen Anhängern.

 

„Du siehst aus wie ein satanischer Weihnachtsbaum!“ Gregor warf bestürzt die Arme gen Himmel. „Normalerweise male ich ja mit Worten. Aber bei dir geht mir echt die Farbe aus.“

Gretas Kinn begann bereits zu Beben, als Joseph im Vorbeigehen innehielt. Das Beben übertrug sich augenblicklich auf ihr Herz.

Er schob eine schwarze Augenbraue nach oben und grinste spöttisch. „Ich werd verrückt! Der Kobold hat Brüste.“

„Halte die Klappe, Sepp!“ Gregor warf seiner kleinen Schwester rasch den Parka über, unter dem sie sich ebenso schnell wieder befreite. 

„Wer hätte das gedacht“, seufzte Joseph und biss sich auf die Unterlippe. 

Die eisblauen Augen bohrten sich in Gretas Gesicht. Gegen seinen Willen heizte ihr Anblick Fantasien an, die ihn auf der Stelle hart werden ließen, in denen aber die kleine Schwester seines besten Freundes definitiv nichts zu suchen hatte. 

Joseph hustete und unterdrückte den plötzlich auftretenden Fluchtreflex. Er kniff nie. Mit einundzwanzig Jahren hatte er in einer Saison bereits mehr Frauen flachgelegt als der 1. FC Köln Tore geschossen. Er war ein Hengst. Er konnte alle haben. Greta aber war tabu.

 

Like a virgin, touched for the very first time...  Madonnas aktueller Hit hallte durch die Boxen, die weiblichen Gäste tanzten und sangen, während der männliche Anteil sie anfeuerte und sich allmählich ins Delirium soff oder kiffte. Gregor war einer von ihnen. 

 

Es war bereits Mitternacht. Und als die schöne Helena auf der Bildfläche erschien, ließ Gregors Wachsamkeit exponentiell mit Helenas Aufmerksamkeit nach, sodass Greta sich unauffällig unter die Menge mischen konnte. 

„Nimm doch mal ‘nen Zug.“ Ein pickeliger Kerl mit wasserstoffblonder Vokuhila zog Greta gegen ihren Willen in eine Umarmung und hielt ihr den Joint vor die Lippen. Eine seiner enorm bewucherten Achseln streifte ihre nackten Schultern und sie wich angewidert zurück.

Ablehnend schüttelte Greta den Kopf und sah sich nach Gregor um. Ihr Bruder hatte sich bereits vor einer Stunde mit Helena in ein Zimmer zurückgezogen. Dauerte Sex immer so lange?

„Nun mach schon, Rotschopf“, drängte der Kerl mit der toten Katze unter dem Arm. „Ist doch nichts dabei. Es wird dir gefallen.“

Greta zögerte. 

Exakt so lange wie Joseph – weniger als fünf Schritte von ihr entfernt – brauchte, um den Reißverschluss seiner Jeans zu schließen und die adrette Brünette mit einem Klaps auf den Po zu verabschieden. 

Sie nahm einen Schluck aus der Wodkaflasche und ließ zu, dass ihr der Achselhaarzüchter den Joint zwischen die Lippen schob. Mit Daumen und Mittelfinger hielt sie die Tüte fest, zog den süßlichen Rauch in ihre Lungen und behielt ihn darin, bis sie das Gefühl hatte, ihre Lungen würden platzen.

„Geil, oder?“ 

Greta nahm einen weiteren Zug, als sie bemerkte, dass Joseph auf sie aufmerksam wurde. Endlich! 

Er kam auf sie zu. 

Noch einen Zug. Viel zu schnell, viel zu tief. Die Zeit schien stehen zu bleiben, Farben und Geräusche wurden intensiver. Hoppla!

„Greta?“ Joseph packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie. „Was tust du da?“

Jede Nervenzelle in ihrem Gehirn erzeugte winzige elektrische Signale. Ganz bestimmte Biochemikalien, sogenannte Neurotransmitter, pendelten zwischen den Neuronen hin und her und transportierten diese Signale weiter, bis alle zur Verarbeitung und Speicherung einer Botschaft benötigten Schritte getan waren. „Nnnichts“, antwortete sie schließlich und ließ sich in seine Arme sinken.

Scheiße.“ 

 

Da Gregor nirgendwo auffindbar war – Joseph investierte in die Suche allerdings auch weder übermäßig Zeit noch Mühe – schulterte er Greta und brachte sie in sein Zimmer. Dort ließ er sie aufs Bett fallen und zog ihre Schuhe aus.

„Was machst du denn da?“, fragte Greta in einer Tonlage, als hätte sie eine Überdosis Yoga im Blut.

Er atmete tief durch und hielt mühsam das Gleichgewicht. Auch an ihm ging der Konsum von Alkohol und Marihuana nicht spurlos vorüber. „Dich aus der Gefahrenzone bringen.“

Greta räkelte sich auf seinem Bett.

Gefahrenzone, dachte Joseph und spürte, wie das Raubtier in ihm erwachte. Er hatte den roten Fuchs vor den Hunden gerettet und mitten in die Wolfshöhle gebracht.

„Und was soll ich hier?“ Sie setzte sich und streckte die Arme vor, bis sie ihre Fußspitzen berühren konnte. Dabei schoben sich die kleinen Brüste nach oben und weckten in ihm die Illusion, es seien reife Äpfel, die es endlich zu pflücken galt.

Joseph wandte sich ab und griff nach der Flasche Jim Beam, die neben den Kondomen auf seinem Nachttisch stand. Ab einem gewissen Promillegehalt im Blut überschätzt man sich zusehends. Auch Joseph war überzeugt, dass vierzig Prozent ihm nicht viel anhaben könnten.

Nach dem dritten Schluck stellte er die Flasche ab und sank auf den Rand Bettes. „Hm.“

Greta rutschte neben ihn und ließ die Beine vom Bett baumeln. „Hm.“

 

Als Whitney Houston im Gemeinschaftswohnzimmer die letzten Takte Saving All My Love For You gezwitschert hatte und George Michael seine Nahkampfschnulze Careless Whisper durch die Boxen hechelte, wandte er ihr das Gesicht zu und sah in die schwarz umrandeten Augen, die im schwachen Schein des Mondes funkelten wie eine im Morgentau liegende Frühlingswiese. In ihrer Iris tanzten Sterne in Gold und Silber, wie Feuer und Eis. Gretas rotes Haar glühte förmlich, als er die Schleife löste und es sich in weichen Wellen über ihre nackten Schultern ergoss. 

Joseph spürte, wie ihm das Blut in die Lenden schoss. Als er seine Hand in ihren Nacken legte, stöhnte Greta auf. Dieser Laut war es, der den Schalter in seinem Hirn endgültig umlegte und seinen Verstand in den Feierabend schickte.

Joseph schob Greta in die Mitte des Bettes, küsste leidenschaftlich ihren Hals und streifte die Leggins von ihren Beinen. Beinahe alles zeitgleich.

Überrascht und – was sie natürlich niemals und erst recht nicht in dieser Nacht zugegeben hätte – völlig überfordert von Josephs plötzlicher Zuwendung, nestelte sie unbeholfen am Verschluss seiner Jeans. 

Als Joseph sich aufrichtete und das T-Shirt auszog, rutschte ihm die offene Hose über die Hüfte und präsentierte seine gewaltige Erektion. 

Greta schluckte. Der Schreck trieb kleine Schweißperlen auf Stirn und Dekolleté. Joseph beugte sich zu ihr hinab und leckte über die salzige Haut. Als seine Hand zwischen ihre Schenkel glitt, schlang sie ihre Arme um seinen Hals. Mit zwei Fingern katapultierte er sie in erste, ungeahnte Höhen. Sie stöhnte so laut auf, dass Joseph eine Hand auf ihren Mund legte.

„Psch“, flüsterte er ihr ins Ohr und ächzte, als Greta ungestüm ihre Fingernägel in seinen Rücken schlug. Er nahm die Hand von ihren Lippen, schob sie unter ihre Pobacke und glitt auf sie.

Gretas Augen funkelten vor ungeduldiger Erregung, und so drang er heftig, beinahe brachial in sie ein. Greta erstickte ihre Schreie in seinem Kopfkissen. Sie war so verdammt eng und feucht, dass Joseph binnen weniger Minuten zum Höhepunkt kam. Er küsste sanft ihre nasse Stirn, zog sich nach dem letzten Pulsieren aus ihr zurück, rollte auf den Rücken und schlief sofort ein. 

 

Eine gefühlte Ewigkeit lag Greta reglos neben Joseph, nahm das Tempo aus ihrer Atmung und lauschte seinem leisen Schnarchen. 

Im Halbdunkel fand sie auf dem Nachttisch eine Rolle Küchenpapier, mit der sie sich Blut und Ejakulat von den Oberschenkeln wischte, bevor sie wieder in ihre Leggins schlüpfte. 

Du hättest ihm sagen müssen, dass du noch Jungfrau bist, tadelte die Stimme in ihrem Kopf. 

Und dann?, antwortete Greta stumm. Hätte er bestimmt nicht mit mir geschlafen.

Aber genau das war es, was sie sich von diesem Abend erhofft, seit einem Jahr erträumt hatte.

Das hätte er auch nicht, wenn er nüchtern gewesen wäre.

Ich liebe ihn.

Die Stimme in ihrem Kopf lachte höhnisch. Was weißt du denn schon von Liebe? Werde erst einmal erwachsen.

Gretas Beine waren schwach und zitterten, als sie sich aufstellte. Zwischen ihren Schenkeln pochte und brannte noch immer der Schmerz. Ich bin jetzt eine Frau!

Wieder ertönte das gehässige Gelächter in ihrem Kopf. Und ein weiterer Name auf der Liste seiner leichten Eroberungen. Falls er sich überhaupt an dich erinnert, wenn er aufwacht. Kannst stolz auf dich sein, Kobold.

Tränen sprangen Greta in die Augen. Leise schlich sie aus Josephs Zimmer.

 

„Greta?“ Jemand tippte ihr auf die Schulter. „Bist du Greta?“

Greta drehte sich um. Helena war nicht nur schön, sondern auch groß. Sie blickte misstrauisch auf Greta hinab. „Alles in Ordnung mit dir, Kleine?“

„Ja. Wieso?“ Hitze stieg in ihr auf. Bestimmt würde man ihr ansehen, dass sie keine Jungfrau mehr war. Vermutlich roch sie noch nach Joseph, nach Sex. Wie aufregend!

„Du siehst so ausgekotzt aus. Na, egal.“ Mit einer abfälligen Handbewegung gab Helena ihr zu verstehen, dass sie kein Interesse an Konversation hatte. „Ich habe dir und deinem Bruder ein Taxi gerufen.“

„Aber ich dachte...“

„Was? Dass ihr hier übernachten könnt?“

Ja. Genau das. Sie schwieg. 

„Hör mal, Mädchen“, schnurrte Helena und legte den Arm um ihre Schulter. „Das hier ist die coolste WG in Köln-Ehrenfeld, keine Auffangstation für Weicheier und Kleinkinder. Also sieh zu, dass du mit deinem Bruder hier verschwindest.“

„Aber Sepp...“

„Joseph verpisst sich in acht Stunden nach Los Angeles.“

„Was?“

Helena sah mitleidig auf Greta herab. „Er geht wieder nach Amerika, zu seiner Familie. Das hier ist seine Abschiedsfete.“

„Was?“ Greta wusste sehr wohl, dass sie sich wiederholte, aber nicht, was sie nun noch sagen sollte oder konnte. „Aber...“

„Ach, nee?“ Die schöne Mitbewohnerin legte den Kopf schief. „Wie alt bist du?“

„Sechzehn.“

Helena kräuselte die Lippen. „Na, der hat ja Nerven.“

 

„Rrrreda? Chrrreeeedaaaa? Fadammmmd!“ Gregor torkelte wie in Zeitlupe auf sie zu.

Helena packte Greta an den Schultern und schüttelte sie, um ihrem Wunsch nach sofortiger, uneingeschränkter Aufmerksamkeit Ausdruck zu verleihen. „Hör mir mal gut zu, Kleine“, zischte sie. „Das mit Joseph vergisst du ganz, ganz schnell wieder. Da ist nie etwas passiert. Du willst doch sicher nicht, dass er Ärger bekommt? Also hältst du schön die Klappe. Haben wir uns verstanden?“

Greta schob trotzig das Kinn vor. „Ich glaube kaum, dass du mir irgendetwas vorzuschreiben hast!“

Helena machte große Augen. Sicher war sie nicht gewohnt, dass man ihr widersprach. 

Gerade setzte sie zu einer Schimpftirade an, als Joseph auftauchte. Er stützte Gregor, der über seine eigenen Füße gestolpert und der Länge nach auf dem Boden aufgeschlagen war. Sein Kinn lief bereits blau an.

„Na, da ist ja der Missetäter schon“, spuckte Helena ihre Verachtung aus. „Bist du eigentlich bescheuert, Sepp?“ Mit dem Kopf nickte sie bedeutungsvoll in Gretas Richtung.

Gregor rührte sich und murmelte irgendetwas auf Klingonisch.

„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Josephs Gesichtszüge wurden ganz hart. Er warf Greta einen grantigen Blick zu. „Ich habe die ganze Zeit gepennt.“

 

Ich, dachte Greta, habe 206 Knochen, die du mir brechen könntest. Was suchst du dir aus? Mein Herz.

 

KAPITEL eins

 

In einer Großstadt im Süden Hessens, heute

 

„Geile Party gestern“, brummt Gregor und massiert sich den Nasensattel. „Herzlichen Dank, Lieblingsschwester.“

Ich schiebe ihm eine Tasse Kaffee und ein Glas mit Aspirin über den Tisch. „Schon in den Spiegel geschaut?“

Seine Hand berührt vorsichtig das linke Auge, bevor er abwinkt. „Meine Güte. So etwas kann passieren“, erklärt er lässig.

„Gregor? Wenn eine Frau sagt, sie wünscht sich etwas Festes, meint sie nicht zwangsläufig deinen Penis.“

 

Ich hatte Selma gewarnt, ihr gesagt, dass mein Bruder seine neu gewonnene Freiheit und Unabhängigkeit so schnell nicht wieder aufgeben wird. Doch sie war von der großen Liebe und einer gemeinsamen Zukunft überzeugt. Nach gerade mal zwei Wochen. Gestern Abend platzte Selmas Seifenblase und ihre Wut entlud sich in Form eines goldenen Porzellanlöwens, der in Gregors Gesicht landete, bevor er auf dem Boden in eine Million Einzelteile zerbrach. So etwas nennt man wohl den krönenden Abschluss einer gelungenen Party.

 

„Nicht mein Problem.“

„Du bist echt ein Arsch“, schnaube ich. „Weißt du das? Nur weil Hele…“

„A-a!“ Gregor hebt beide Hände und signalisiert mir, auf gar keinen Fall weiterzusprechen. „Ich will diesen Namen nie wieder hören.“

„Na ja“, gebe ich zu bedenken. „Das wird sich nicht dauerhaft vermeiden lassen.“

„Dann will ich ihn nicht öfter als nötig hören.“

Ich verdrehe die Augen und starte einen erneuten Versuch. „Was willst du beweisen?“

Er schnaubt in die Kaffeetasse. „Gar nichts, Greta. Ich brauche nichts beweisen. Ich will nur mein Leben genießen.“

„Indem du dich besinnungslos vögelst, seit deine Scheidung durch ist? Gregor, du bist jetzt fünfzig! Wenn du in diesem Tempo weitermachst, verabschiedet sich spätestens in sechs Monaten deine Bandscheibe.“

„Ey“, protestiert er. „Ich bin leistungsfähig wie eh und je.“

Da wage ich nicht widersprechen, mache mir aber trotzdem Sorgen. „Du nimmst aber nicht irgendwelche...“

Gregor starrt mich an, als hätte ich ihm gerade die Hoden mit Kaltwachs enthaart. „Geht’s noch? Nur weil nach Toni dein Liebesleben auf Slow Motion läuft, heißt das nicht, dass man jenseits der Vierzig sein Geschlechtsteil zur Organspende freigibt. Ich für meinen Teil brauche ihn noch.“ Er fasst sich in den Schritt.

„Lass stecken“, ätze ich angewidert. 

„Tue ich ja“, grinst er breit.

Ich werfe die Arme in die Luft und gebe mich geschlagen.

 

Nach Toni. In unserer Zeitrechnung bedeutet das ein Jahr, drei Monate und vier Tage.

 

Gregor steht auf, kommt gelassen um den Küchentisch und zieht mich vom Stuhl in seine Arme. „Ach, Gretchen. Hör auf, dir ständig Sorgen um mich zu machen. Mir geht es gut. Vielleicht habe ich diese Zeit gebraucht, um das zu werden, was ich jetzt bin.“

„Eine Schlampe?“

„He!“ Er drückt mich heftig. „Ein Kerl mit Eiern in der Hose, der nie wieder nach der Pfeife einer Frau tanzen wird, die ihn nicht verdient hat. Das hast du mir doch immer gepredigt. Was also ist plötzlich falsch daran?“

Ich löse mich aus seiner Umarmung. „Nichts ist falsch an deinen Eiern, Gregor. Solange du sie nicht in jedes Nest legst, das deinen Weg kreuzt. Denkst du zur Abwechslung auch mal an die Schnitte?“

 

Die Schnitte. Das ist der Frisörsalon, den Gregor und ich 1990 gemeinsam eröffnet haben, als es uns der Liebe – oder was wir dafür hielten – wegen vom Rhein an den Main zog. Helena erhielt nach ihrem ausgedehnten Studium eine Stelle als Lehrerin an einer Offenbacher Grundschule und Gregor erfüllte seiner Traumfrau natürlich jeden Wunsch. Damals ein schickes Loft in Frankfurt-Sachsenhausen. 

Nicht weniger spendabel zeigte sich der Jungmanager Falk, mit dem ich zehn Jahre in wilder Ehe Frankfurts Westend bewohnte. Dort sind wir insgesamt sieben Mal umgezogen, weshalb ich mich irgendwann für den Kauf der viel zu großen Altbauwohnung über dem Salon im Darmstädter Paulusviertel und damit für ein Leben als alleinerziehende Mutter entschied. Falk arbeitet und wohnt inzwischen in London, Kensington – seit einem Jahr teilt er sich die Villa mit Helena und ihren drei Yorkshire Terriern. 

 

Schon früh zeichnete sich ab, dass die schöne Helena es mit der Treue nicht sehr genau nahm. Doch recht spät drang diese Tatsache auch in Gregors Bewusstsein vor. Man könnte es als Fügung des Schicksals bezeichnen, dass Linus vor drei Jahren die Buchhaltung in der Schnitte übernahm und Gregor in einem Moment höchster Schmach vorschlug, mir pro forma seine Anteile für einen Euro zu verkaufen. Gregor hatte noch immer das Bild seiner Frau mit gleich zwei Liebhabern im gemeinsamen Ehebett vor Augen und stimmte sofort zu. Damit war nach der Scheidung – drei Jahre später – immerhin der Salon vor den gierigen Fingern seiner einstigen Jugendliebe sicher. Helena schnappte sich im Gegenzug meinen wohlhabenden Ex-Lebensgefährten und sorgte dafür, dass unsere bis dato freundschaftlich warme Beziehung merklich abkühlte.

 

„Was hat die Schnitte denn damit zu tun?“ Gregor legt den Kopf schief. „Ich schleppe unsere Kundinnen ja nicht der Reihe nach ab.“

„Du sagst aber auch nicht Nein, wenn sie dich um ein Date bitten. Nie sagst du Nein.“

„Sie wissen, dass es nur ein One Night Stand ist.“

„Und das ist okay?“

„Natürlich ist das okay“, zuckt Gregor gleichmütig mit den Schultern. „Jeder bekommt das, was er möchte. Ohne Fragen. Ohne Verpflichtungen. Da ist heutzutage nichts mehr dabei. Frag doch Emma.“

 

Emma. Sorgenkind und Sonnenschein. In zweiunddreißig wehen Stunden kämpfte sie sich ins Leben. Brüllend und mit einer Kraft, die für zwei gereicht hätte – bezeichnend für ihr ganzes Leben. Schon früh war sie selbständig, geprägt von enormem Selbstbewusstsein und einem Lebensgefühl, das vor Energie und Tatendrang überquoll. Nach ihrem Abitur schrieb sie sich in der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln ein, um Jura zu studieren, und zog mit zwei Freundinnen in die WG einer Mitvierzigerin in Ehrenfeld. Nebenbei jobbt sie als Model und Hostess und hilft gelegentlich in der Anwaltskanzlei hier um die Ecke aus. All das tut sie mit einer unbeschwerten Zielstrebigkeit, dass es mir als Mutter so manches Mal sowohl Atem als auch Nerven raubt.

 

„Deine Argumentation war nicht gut durchdacht, nicht wahr?“

Das dämmert Gregor auch gerade. Er schweigt.

„Du weißt“, fahre ich fort, „was ich davon halte, dass meine Tochter bei einem Begleitservice arbeitet und ihre Liebhaber in einem Zeitmaß wechselt, das nicht mal den Hauch einer Chance lässt, mir wenigstens ihre Vornamen zu merken. Ich bin wirklich nicht altmodisch, Gregor, aber hier gehen gewisse Werte eindeutig den Bach hinunter. Ich...“

...sehe meine Tochter im Türrahmen stehen und halte im Satz inne.

„Wunderschönen guten Orgen“, begrüßt Emma erst Gregor, dann mich mit Wangenkuss, schubst ihren Begleiter in die Küche und öffnet die Kühlschranktür. „Gar keine Arelade ehr da? Enno! Dann eben Ettwurst. Oder Sala-i.“ Sie dreht sich zu mir um. „Lasst euch nicht unterbrechen. Erzähle nur weiter, Utter.“

„Äh...?“

Emma beugt sich zu ihrem vermeintlich aktuellen Liebhaber hinab und leckt ihm übers Ohr. „Den Moralaposteln einfach mal das M wegnehmen“, spottet sie. „Bringt sie total aus der Fassung.“

Der junge Mann mit dem roten Strubbelkopf räuspert sich verlegen und streckt mir die Hand entgegen. „Guten Morgen, ich bin übrigens...“

„Lass nur“, winke ich ab und werfe Emma einen finsteren Blick zu. „Es wird sich sicher nicht lohnen, dass ich mir deinen Namen merke.“

Er hält hörbar die Luft an und blickt zu Emma hinüber, deren Gesichtsausdruck um Nachsicht mit dem Jüngling bittet.

Also lenke ich ein. „Entschuldige. Wie heißt du?“

„Julian.“ Zögerlich reicht er mir ein weiteres Mal die Hand.

Ich ergreife sie und schwöre zum hundertsten Mal, mich nicht mehr in das Leben meiner Tochter einzumischen.

„Julian“, sagt Emma gelangweilt und legt die Hände auf seine Schultern, „ist übrigens mein Kommilitone.“

 

Dieses Missverständnis hätte mir peinlich sein können, womöglich sogar sollen. Allerdings sorgt Emma dafür, dass meine Schamgrenze stetig sinkt. Regelmäßig hat sie bei ihren Besuchen einen ihrer aktuellen Liebhaber im Gepäck, die mir dann spärlich bekleidet auf dem Flur begegnen, wenn sie nicht gerade vor meinem Kamin, auf dem Küchentisch oder unter der Dusche in meiner Tochter stecken. Während der letzten zwei Jahre habe ich mehr nackte Männerärsche in meiner Wohnung gesehen als bei RTL.

 

Ich stehe auf. „Möchtet ihr Kaffee?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, hole ich zwei Tassen aus dem Schrank und schiebe sie unter den Vollautomaten. 

Über den Lärm des Mahl- und Brühvorgangs bemerke ich nicht, dass Emma mir folgt. 

Nun schlingt sie, an meinen Rücken geschmiegt, ihre Arme um meine Taille und legt das Kinn auf meine Schulter. „Mama?“, flüstert sie mir ins Ohr. „Ist es wegen Toni? Und der Neuen, die...“

Lachend schüttele ich den Kopf. „Nein.“

 

Toni ist Geschichte. Ein Teil meiner Geschichte. 

 

Das Schicksal ist ein Wiederholungstäter. Denn auch diese drakonischste aller Erfahrungen machte ich ausgerechnet in einer WG in Köln-Ehrenfeld. Die Erinnerung an unsere erste Begegnung und die darauffolgenden zwölf Monate, lassen meinen Körper nach wie vor vibrieren. Vor Lust und bis dato unbekannter Leidenschaft. Heute noch, wenn ich einsam bin, fühle ich Tonis geschickte Hände zwischen meinen Schenkeln, spüre heiße Lippen, die feucht ihre Spur über meinen Körper ziehen. Toni ist geballte Erotik. Dass unsere Beziehung überhaupt so lange hielt, lag einzig an den innigen Gesprächen, während derer wir uns oft näher waren als beim Sex. Doch es hatte nicht gereicht. Toni hatte es nicht gereicht. Nach neun Monaten konnte ich die vielen Affären schon nicht mehr zählen. An unserem Jahrestag trennten wir uns in Freundschaft. Vier Mal haben wir uns seitdem getroffen, miteinander geschlafen und uns immer wieder aufs Neue geschworen, dass dieses Mal das letzte Mal sei. Womöglich kam Toni deshalb in Begleitung zu Gregors Geburtstagsfeier. Klug.

 

Julian räuspert sich und holt mich aus meinen Erinnerungen, während ich die Kaffeetasse vor ihm abstelle. 

„Vielen Dank, Frau Kaiser, ich möchte wirklich keine Umstände…“

„Oh“, unterbreche ich ihn aufrichtig lächelnd. „So hoch bin nicht aufgestiegen. Nur Emma ist eine Kaiserin.“

„Was?“

Meine Tochter sinkt auf Julians Schoß und zupft ihn am Ohr. „Ich trage den Namen meines Vaters: Kaiser. Mama heißt König.“

„Witzig.“

„Ja“, lache ich freudlos auf. „Witzig.“ 

 

Auch Emmas älterer Bruder trägt den Namen Kaiser. Es hat mich damals verletzt, dass Falk darauf bestand, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an Heirat zu verschwenden. Die Kinder sollten seinen Namen tragen. Ich blieb bis zur Trennung seine Königin – und stumm. Immerhin hatte ich es Falk zu verdanken, meinen Kindern ein sorgenfreies und behütetes Leben bieten, selbst arbeiten gehen und sogar noch meinen Meisterbrief machen zu können.

 

„Wenn man vom Teufel spricht“, knurrt Gregor und torpediert das Smartphone, das seit einer geschlagenen Minute auf dem Küchentisch zappelt und brummt wie ein hysterischer Vibrator mit Schluckauf, mit bösen Blicken. „Das sind unsere Exen.“

„Geh halt ran“, fordere ich ihn mitfühlend auf. „Vielleicht ist es Elias.“

 

Elias. Herzblut und Liebe meines Lebens. Anders als seine kleine Schwester, hatte er es sehr eilig, zur Welt zu kommen. Bevor ich die Schmerzen in Rücken und Unterleib richtig einordnen konnte, drängte es den kleinen Kerl schon nach draußen. Mutterseelenallein brachte ich mein Kind zur Welt, bevor Gregor kam und uns ins Krankenhaus brachte. Die Bindung, die sich während dieser einen Stunde aufbaute, ist und bleibt eine ganz besondere. Inzwischen ist Elias zu einem bildhübschen jungen Mann herangewachsen. Außenstehende vergleichen ihn mit Orlando Bloom. Ich sehe in Elias – mit den eisblauen Augen und dem rabenschwarzen Haar – seinen Vater. 

 

Elias zeigte schon früh eine außerordentliche künstlerische Begabung. In Berlin ließ er sich ausbilden und ist inzwischen in der halben Welt als Gasttätowierer unterwegs. Aktuell befindet er sich in London und wohnt während seines Aufenthalts bei Falk und Helena in deren Kensingtoner Villa.

 

Gregor seufzt und nimmt auf Laut das Gespräch an. Dabei legt er ein höchstmögliches Maß an Unfreundlichkeit in die Stimme. „König.“

„Und hier Kaiser.“

Ich verdrehe die Augen. Dieses unterschwellige Machtgetue ist typisch geworden für Falk. Helena tut ihm nicht gut. Doch das soll nicht meine Sorge sein.

„Wir gratulieren dir von Herzen zum fünfzigsten Geburtstag“, flötet Besagte sogleich aus dem Hintergrund und mir steigt unwillkürlich die Galle hoch.

„Du hast auch schon besser gelogen“, kann ich mir daher nicht verkneifen und nehme mit Genugtuung wahr, dass es Gerangel um das Telefon gibt. 

„Happy Birthday, Lieblingsonkel!“

„Ein Mensch!“ Gregor stößt einen übertriebenen Jubelschrei aus. „Hörst du, Greta? Es gibt tatsächlich einen Menschen in der Kaiservilla. Ich dachte, dort leben nur Hampelmänner und Miststücke.“

Julian reißt die Augen auf. 

Emma streichelt ihm beruhigend den Rücken, bevor sie sich quer über den Küchentisch zum Smartphone beugt. „Hey, Crow.“ 

 

Emma hat ihren Bruder nach der Fantasycomicverfilmung von Alex Proyas aus dem Jahr 1994 benannt, nachdem sich Elias für die Theateraufführung seiner Abschlussklasse in den Charakter Eric Draven verwandelt und sie Jahre später die Aufnahmen davon gefunden hatte.

 

„Na, Prinzessin?“ Man kann Elias‘ Lächeln förmlich hören. „Welches Herz brichst du denn gerade?“

„Deines, wenn du nicht bald mal wieder nach Hause kommst.“

„Nanana!“

„Ich meine es ernst, Elias.“ Emma runzelt die Stirn. „Sag mal, kennst du eigentlich Joe? Joe, die Nadel?“

Elias klingt augenblicklich ziemlich aufgebracht. „Willst du mich verarschen?“

„Wer ist die Nadel?“, will ich wissen.

Stille. 

Bis Gregor das Wort ergreift. „Ein ziemlich angesehener Tätowierer, soviel ich weiß. Wer mit oder für ihn tätowiert, hat’s geschafft.“

Ich schaue meinen Bruder nur blöd an.

„Joe tätowiert seit drei Jahrzehnten“, klärt Elias mich auf. „Sein Name ist über die Grenzen hinaus bekannt, seine Arbeit geschätzt. Bei ihm haben nur ein paar ganz wenige, ausgesuchte Tätowierer das Handwerk gelernt.“ Bewunderung klingt in seiner Stimme mit.

„Ich kenne ihn nicht“, gebe ich schulterzuckend zu.

„Aber ich“, grinst Emma das Smartphone an. 

„Du schläfst mit ihm“, vermutet Elias.

Seine kleine Schwester leckt sich bedeutungsvoll über die prallen Lippen. „Sobald du wieder im Land bist, stelle ich ihn dir vor.“

„Der nächste nackte Arsch“, seufze ich und lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken.

 

 

KAPITEL zwei

 

Nur 15 Kilometer Luftlinie entfernt, zur selben Zeit

 

Joe betritt das Sechsundsiebzig – Frisörsalon, Kosmetikstudio, Café und Bar in Einem – so unauffällig es einem knapp zwei Meter großen Kerl mit breiten Schultern eben möglich ist, und erspäht in Sekundenbruchschnelle seine Beute. 

Fee hebt beide Hände zum Hinterkopf und zwirbelt geschickt ein Haarband um ihre wilde Lockenpracht, bevor sie erschöpft auf einen Barhocker sinkt.

Lautlos beugt sich Joe hinab und pustet ihr in den Nacken. 

Er kann noch sehen, wie sich die feinen Härchen aufstellen, bevor Fee blitzschnell vom Hocker springt und ihm freudig um den Hals fällt. „Papa Joe!“

„Überraschung, Lämmchen“, lächelt er und küsst seine beste Freundin vertraut.

 

Joe und Fee lernten sich 1999 durch einen gemeinsamen Kunden kennen und schätzen. Fee war zu dieser Zeit angestellte Fotografin eines der angesehensten Studios in Köln. Um Joe zu beeindrucken, setzte sie vor allem die von Joe gestochen Tattoos des Kunden geschickt in Szene. Das gefiel ihm. Sie wurden Geschäftspartner, in erster Linie jedoch engste Freunde. 

 

„Das nenne ich wirklich eine Überraschung.“ Fee fährt ihm mit den Fingern durchs Haar. 

„Was ist denn mit dir passiert?“ 

Er schiebt die vollständig tätowierten Hände in die Taschen und zieht die Achseln hoch. „Ich hatte keine Zeit zum Rasieren.“

„Sieht man“, klinkt sich Nils, Geschäftsführer des Sechsundsiebzig und seit einigen Wochen Fees Lebensgefährte, ins Gespräch ein und klopft Joe auf den Rücken. „Schön, dich mal wieder zu sehen. Brauchst ganz offensichtlich einen Haarschnitt“, schickt er lachend hinterher.

Joe grinst. 

 

Sein letzter Besuch liegt bereits acht Monate zurück. Es war der Tag vor Heiligabend, als er nach Miami aufbrach, um dort eine weitere Filiale seines Tattoostudios zu eröffnen. Mit Glatze und Dreitagebart, seinem Styling seit beinahe fünfundzwanzig Jahren. Nachdem Joe bei der Ankunft in Miami das Fehlen von Trocken- und Nassrasierer bemerkt hatte, befand er spontan beide Utensilien für überflüssig und ließ der Natur ihren haarigen Lauf. Und das würde er immer noch, hätte ihm die Kleine, die seit seiner Rückkehr sein Bett in Köln wärmt, nicht diese Drei-Musketiere-Gedächtnis-Rasur verpasst. 

 

So erzählt er es auch Fee, mit der er inzwischen am Tresen Platz genommen hat.

„Drei-Musketiere-Gedächtnis-Rasur“, prustet sie. „Das klingt gut. Und?“

„Was? Und?“

Fee schubst ihm den Ellenbogen in die Seite. „Was Ernstes mit der Kleinen?“

Joe lacht und blickt zur Seite. „No way.“ Seine Hände legen sich beinahe zärtlich um das Whiskyglas, seine Miene wird ernst. „Ich bin nicht der Beziehungstyp.“

„Ich weiß, aber...“

„Nichts aber. Das Mädel... es ist nur Sex. Weiter nichts.“

Natürlich lässt Fee nicht locker. „Das Mädel hat sicher auch einen Namen? Wie habt ihr euch kennengelernt? Wo kommt sie her? Wie alt ist sie? Was macht sie beruflich?“

Joe seufzt und Nils klopft ihm mitfühlend die Schulter. „Emma. Kunstbar. Ehrenfeld. Anfang zwanzig, schätze ich. Jurastudium“, leiert er gleichmütig herunter. 

„Schätzt du? Aber du bist sicher, dass sie volljährig ist?“ 

Joe grinst. „Sie fährt Auto.“ 

„Anfang zwanzig?“ Nils zieht eine Augenbraue nach oben. „Du bist fünfzig, oder?“

Er nickt. 

Fee seufzt. „Andere haben in diesem Alter schon Enkelkinder. Apropos Kinder.“ Ein Lächeln legt sich über ihr Gesicht, als sie zur Tür schaut. „Da kommt deins.“

 

Alexander ist Fees Sohn aus der langjährigen Beziehung mit Mikkel, ihrem ehemaligen Chef. Ein Vierteljahrhundert war sie seine heimliche Geliebte. Joe konnte dafür nie viel Verständnis aufbringen. Dennoch stand er Fee bei, kümmerte sich um sie und ihren Sohn, so viel und so oft es ihm möglich war. Joe war Alex in den letzten elf Jahren Freund, Vertrauter und entschieden mehr Vater als Mikkel es je hätte sein können.

 

„Joe!“ Alex hebt die rechte Hand zu einem High Five und kommt auf ihn zu. Mit dem kahl geschorenem Kopf, Dreitagebart und seinem spitzbübischen Lächeln ist er eine gelungene Mischung aus Vin Diesel und Dwayne 'The Rock' Johnson. 

Die beiden Männer klatschen ab und umarmen sich kurz, wie Männer das eben tun.

„Wie geht es Nina?“ Joes vorrangiges Interesse gilt Alexanders Lebensgefährtin.

 

Alexander hatte von je her eine Vorliebe für Frauen jenseits der vierzig. Dann kam Nina, zarte achtzehn und Nils‘ jüngste Schwester. Plötzlich war da nicht mehr nur die Lust an schnellem, unverbindlichen Sex, sondern das Bedürfnis nach Verbundenheit, Liebe und Beständigkeit. Sein Beschützerinstinkt wurde geweckt. In Nina fand Alex die Eine, mit der er alt werden will und in weniger als zwei Monaten sogar ein Kind haben wird.

 

„Puh“, stöhnt Alexander und schlüpft an seinen Arbeitsplatz hinter dem Tresen. Er ist nicht nur Barkeeper, sondern inzwischen auch Teilhaber des Sechsundsiebzig. „Ganz werdende Mutter, sage ich dir.“

„Gelüste auf Essiggurke mit Nutella?“ Damit würde sie jedenfalls das Klischee bedienen.

Alex beugt sich näher an Joes Ohr. „Meine Gurke mit Nutella. Spitz wie Nachbars Lumpi, sage ich dir!“

„Glückwunsch, Junge“, nickt Joe und legt dann den Kopf schief. „Oder gehörst du zu jenen, die Angst davor haben, dass das erste, was ihr Baby von ihnen sehen könnte, der Pimmel ist? Enttäusche mich jetzt bitte nicht, Alex.“

„Ich bin doch keine Pussy“, antwortet er mit breiter Brust. „Aber irgendwann muss ich auch mal schlafen.“

Joe lacht so verrucht rau auf, dass sich die beiden Damen am Ausgang noch einmal nach ihm umdrehen und verträumt lächeln. 

 

Fee schüttelt nachsichtig den Kopf und legt ihren Arm um Joes Taille. „Warum hast du eigentlich deine Emma nicht mitgebracht?“

Seine rechte Augenbraue schnellt in die Höhe. „Erstens“, stupst er ihr mit dem Zeigefinger auf die Nase, „ist es nicht meine Emma. Wir haben Sex, keine Beziehung. Zweitens“, ein erneuter Stupser, „ist sie selbst auf einem Geburtstag. Onkel, oder so.“

„Werde ich jemals erleben“, fragt Fee und sieht ernstlich betrübt aus, „dass dich mit einer Frau mehr verbindet als Sex?“

„Außer dir, meinst du?“ Mit einem Augenzwinkern erinnert er sie an die Nacht, in der sie für einen Moment mehr als Freundschaft verband. Mikkel hatte Fee nach fünfundzwanzig Jahren abserviert und Joe tröstete seine beste Freundin. Im Wohnzimmer sah es danach aus, als hätten sie ein Showcatchen veranstaltet: Ein großer Teil des guten Whiskys, den Joe Fee mitgebracht hatte, ergoss sich über den verschobenen Couchtisch, der Sessel lag quer, der Flokati war in den Flur geflüchtet, und die Sofakissen hatten sich in alle Himmelsrichtungen verstreut. Bei der Erinnerung muss er schmunzeln. „Nö“, erklärt er dann knapp.

Fee stöhnt und rollt mit den Augen.

Joe legt seine rechte Hand auf ihre Wange. „Lämmchen? Ich brauche kein Ich liebe dich. Ein ehrlich gemeintes Komm her und fick mich sagt doch viel mehr und macht weniger Stress.“

„Du warst schon immer so, stimmt’s?“

Joe nickt und presst die Lippen aufeinander. Fast könnte man meinen, es täte ihm leid.

Vertraut legt Fee ihre Hand auf seinen Oberschenkel. „Hast du denn nie bereut? Ich meine, all die Frauen, mit denen du geschlafen hast...“

„...wussten, was sie tun und haben nie mehr als genau das von mir erwartet“, greift er ihrer Frage vor.

„Sicher?“

Joe holt tief Luft und ein Gedankenfetzen gräbt sich aus den Untiefen seiner Erinnerung. „Sicher“, antwortet er mit fester Stimme und einer Handbewegung, die jeden Zweifel beiseite wischt.

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