Montag, 11. März 2024

.öditussi | leseprobe

Liebe, Mord und andere moralische Verfehlungen.

Am späten Nachmittag des 15. Juli 1997 hat der 45jährige Matthew Mason drei Frauen mit zahlreichen Messerstichen attackiert und schwer verletzt. Nach der Bluttat vertraute sich der Trucker einem Freund an. Dieser überredete Mason, sich der Polizei zu stellen. Den Beamten teilte der Mann sodann mit, er habe seine Mutter Lisanne, seine Schwester Amy sowie seine Ehefrau Elizabeth getötet. Sowohl bei seiner Mutter als auch seiner Schwester hatte er einen tiefen Nackenstich gesetzt, der zum Tod führte. Die Ehefrau wurde lebensgefährlich verletzt.

Ödipus [altgriechisch Oidípous]
(Gestalt der griechischen Mythologie, die sowohl Vatermord als auch Inzest beging)

Das Leben ist schön. Von einfach hat niemand etwas gesagt.

Es ist doch zum Haareraufen. Walter verkauft die Werkstatt und Lilli verliert nach fünfzehn Jahren ihren Arbeitsplatz, weil der neue Besitzer auf Altlasten verzichten möchte. Also nimmt die ausgebildete Kfz-Meisterin den Aushilfsjob als Kellnerin im Sechsundsiebzig an – und trifft prompt auf eine gleichermaßen alte wie intensive Affäre. Die beiden verbindet ein dunkles Geheimnis und ihr Wiedersehen weckt seinen ausgeprägten Beschützerinstinkt.

Kopflos stürzt sie sich in das Vorhaben, ihren Job in der Werkstatt wiederzuerlangen und trifft auf einen Gegner, der an Arroganz, Misogynie und Impertinenz kaum zu übertreffen scheint und sie mit seinem Verhalten zwar nicht völlig in den Wahnsinn, aber immerhin in die Arme seines verständnisvollen und zudem verdammt gutaussehenden Freundes treibt.

Jeder macht Erfahrungen im Leben, die ihn als Menschen definieren. Lilli findet schließlich heraus, was es mit dem impertinenten Machoarschloch auf sich hat und stellt fest, dass sie beide sich gar nicht mal so unähnlich sind...

Die Autorin beschränkt sich in inzwischen gewohnter Weise nicht nur auf die Erzählform aus Sicht der Protagonistin, sondern entführt ihre Leser*innen in Abschnitten zu den Geschehnissen außerhalb ihres Wahrnehmungsbereichs.

Auch dorthin, wo niemand sein möchte...

Wie gewohnt – und doch ganz anders.

ÖDITUSSI schließt an die Geschehnisse von LEEVLÜTTE an.

Mitwirkende sind neben Lilli und Jakob Maurer sowie Rick Taylor und Eric Thorvaldsson (Leevlütte) unter anderem Joe Hunter (Pummelfee, Scheeschnittchen, Leevlütte), Gregor und Greta König (Scheeschnittchen, Leevlütte), Elias Kaiser (Scheeschnittchen, Leevlütte), Nils Merveilleux (Schwesterherz, Pummelfee, Scheeschnittchen, Leevlütte) und Alexander Ander (Schwesterherz, Pummelfee, Scheeschnittchen, Leevlütte) sowie Charlie Liebkind (Leevlütte) und Evan Fitzpatrick (Scheeschnittchen, Leevlütte).

Dieses Buch enthält erotische Inhalte und explizite Szenen, die ausschließlich für Leser:innen ab 18 Jahren geeignet sind, außerdem Schilderungen psychischer und physischer Gewalt, die belastend oder (re)traumatisierend wirken können.

PROLOG

Wegen heimtückischen Mordes an seiner Mutter und seiner Schwester sowie versuchten Mordes an seiner Ehefrau ist ein Familienvater aus New Orleans zum Tode verurteilt worden. Bis zur Vollstreckung wird er ins Louisiana State Penitentiary verbracht.

Am späten Nachmittag des 15. Juli 1997 hat der 45jährige Matthew Mason die drei Frauen mit zahlreichen Messerstichen attackiert und schwer verletzt. Sowohl bei seiner Mutter als auch seiner Schwester setzte der Mann einen tiefen Nackenstich, der letztlich zum Tod führte. Die Ehefrau wurde lebensgefährlich verletzt.

Nach der Bluttat vertraute sich der Trucker einem Freund an und bat ihn um dessen Auto für die Flucht. Dieser überredete Mason, sich der Polizei zu stellen. Den Beamten teilte der Mann sodann freiwillig, ungefragt und unaufgefordert mit, er habe seine Mutter Lisanne, seine Schwester Amy sowie seine Ehefrau Elizabeth umgebracht.

 

New Orleans [ˈnjuː ˈɔrliənz oder ˈnuː ɔrˈliːnz, lokal auch: ˈnɔrlən] Eigenname
(mit etwa 343.800 Einwohnern größte Stadt im Bundesstaat Louisiana in den Vereinigten Staaten, am 15. Juli 1997 unter anderem Schauplatz eines grausamen Familiendramas)


Der Einsatzbefehl ging über Funk ein. „Wir haben einen fünfundvierzigjährigen Mann, der gerade ausgesagt hat, seine Frau, seine Mutter und seine Schwester ermordet zu haben. Überprüft das Haus in der Annunciation Street Neun.“

Die Officers Carrow Lengleigh und Phil Donahan befanden sich nur zwei Straßen von der angegebenen Adresse entfernt.

„Wahrscheinlich wieder irgend so ein Spinner, der sich wichtigmachen will“, knurrte Phil und trat mürrisch die Zigarette aus, die nicht einmal zur Hälfte aufgeraucht war.

„Die Hitze macht die Leute irre.“ Carrow fächerte sich mit einem Prospekt Luft zu und stieg widerwillig in den Wagen. Diese verfluchte Klimaanlage hatte ausgerechnet während ihrer Schicht den Geist aufgegeben. Verdammt.

Phil grinste hämisch. „Da braucht es nun wirklich keine hohen Temperaturen, damit ein Mann mal eben Frau, Mutter und die Schwester umlegt.“

„Ach, halte die Klappe, Donahan.“

Seit Jennys Auszug war Phil nur noch sehr sparsam gelaunt.

Zehn Minuten später trafen die beiden Beamten am vermeintlichen Tatort ein.

„He“, brüllte Phil den Kindern zu, die sich an einem der Sprossenfenster im Erdgeschoss der kleinen weißen Villa die Nasen plattdrückten. „Verschwindet. Da gibt es nichts zu sehen.“

„Gibt es dooo-hoooch“, kiekte einer der Jungs und suchte, wie seine Kumpels, schleunigst das Weite.

„Scheiße, Phil.“ Carrow rieb mit dem Daumen über ein Oleanderblatt und hielt ihn sich unter die Nase. „Das ist Blut.“ Mit der Hand am Pistolenholster näherte sie sich der Veranda.

Phil folgte und trat dann als Erster an die Eingangstür. „Polizei New Orleans. Öffnen Sie bitte die Tür.“

Keine Reaktion.

Er wiederholte die Aufforderung und hämmerte nachdrücklicher gegen die Tür.

Carrow spähte derweil durch das Sprossenfenster, an dem die Nasen der vier Kinder deutliche Spuren hinterlassen hatten, in das Wohnzimmer der Familie Mason. „Da liegt jemand auf dem Boden“, rief sie Donahan zu, der das Hämmern intensivierte und am Türknauf rüttelte.

„Hol das Eisen aus dem Wagen.“

Keine Minute später setzte der Kollege das Stemmeisen an. Holz splitterte, das Schloss fiel heraus und die Tür schwang weit auf.

Phil und Carrow zogen ihre Waffen und betraten das Haus. Der süßliche Geruch des Todes nahm ihnen fast den Atem.

Carrow erstarrte. Blut. Überall verspritzt. In der Garderobe. Im Wohnzimmer. In der Küche. Ein Schlachthaus.

Phil unterdrückte den Würgereiz und schritt mit gezogener Waffe die Räume ab.

 

Auf dem Wohnzimmerboden lag eine hübsche blonde Frau. Sie trug Hotpants, die viel mehr von ihrem Po zeigten als sie verbargen. Arme und Beine waren mit Messerstichen übersäht, ihr fehlten Teile der rechten und linken Hand. Sie hatte sich offenbar gegen die Attacke zur Wehr gesetzt und zu flüchten versucht, war jedoch mit einem gezielten und letztlich tödlichen Messerstich in den Nacken niedergestreckt worden.

Im Raum nebenan fand Phil die Leiche einer etwa fünfundsechzigjährigen Frau. Das musste die Mutter sein. Sie saß auf einem Stuhl am Küchentisch. Ihr wurde die Kehle aufgeschlitzt, bevor der Mörder den tödlichen Stich in den Nacken setzte. Das Blut aus der Halswunde tränkte nicht nur die Blümchenbluse, sondern hatte sich auch in ihrem Schoß gesammelt. Phil stöhnte von Entsetzen erfüllt auf.

Carrow stand neben der Leiche einer weiteren Frau, die mit dem Oberkörper über einer Truhe lag. Ihre Beine waren unnatürlich verdreht. Eine Hand ragte unter dem Hals hervor. Carrow erschauderte. Es sah aus, als wolle sie per Zeichensprache um Hilfe rufen. Sie trat näher an die Leiche heran. Das lange, schokoladenbraune Haar breitete sich auf dem Truhendeckel aus und war starr von getrocknetem Blut.

Doch irgendetwas stimmte nicht.

Carrow ignorierte das Blut, das eine klebrige Pfütze vor ihren Füßen bildete, und unterdrückte ein Keuchen. Ganz schwach zwar, aber... da war eine Bewegung. Ein Atemzug.

„Phil! Phil! Phil!“ Sie schrie nach ihrem Partner, bevor sie über Funk einen Krankenwagen anforderte.

Die junge Frau röchelte kaum hörbar. Erst jetzt begriff Carrow, dass der Mörder ihr die Kehle aufgeschnitten hatte. Der dünne Stoff des weißen Sommerkleides war dunkelrot von ihrem Blut. Nur der Tatsache, dass sie durchgängig die Hand auf den Hals gepresst hielt und der Druck durch ihr eigenes Körpergewicht verstärkt wurde und anhielt, als sie schwächer wurde, verdankte sie womöglich ihr Leben.

Während der Notarzt die lebensgefährlich verletzte Frau erstversorgte, flatterten ihre Augen immer wieder zur Truhe hin. Mit letzter Kraft schlug ihr Arm auf den Deckel.

Erneut war es Carrow, die aufmerksam lauschte und ein leises Wimmern aus dem Inneren vernahm. Sie riss den Deckel auf und hob zwischen Laken und bestickten Tischtüchern einen nur drei Tage alten Säugling hervor. James Mason.

 

„Matthew Mason unterhielt sexuellen Kontakt zu allen drei Frauen“, erklärte die Anklage nur wenige Monate später der zwölfköpfigen Jury. „Er schlief mit seiner Frau. Er schlief mit seiner Schwester. Er schlief mit seiner Mutter. Und er handelte heimtückisch und aus niederen Beweggründen. Matthew Masons Persönlichkeit ist geprägt von neurotischen Perversionen, deren Ursache darin liegt, dass er seine ödipale Phase nie überwunden hat.“

 

Darmstadt [ˈdarmʃtat] Eigenname
(kreisfreie Großstadt im Süden Hessens, seit 1997 Wissenschaftsstadt)


 Heute.


„War das im ersten Korinther tatsächlich so vorgesehen“, fragt Eric amüsiert und bezieht neben der attraktiven Untoten Stellung, „als die von auferstanden von den Toten gesprochen haben?“

„Falls dein Name Ragnarr Loðbrók ist“, kontert sie unverblümt, „bist du aber auch nicht mehr ganz frisch.“

Nicht nur attraktiv, sondern auch schlagfertig. Kein Wunder, dass diese Frau das Herz seines grimmigen Bruders erobert hat. „Schön, dich wiederzusehen. Mitglied?“

„Ohne. Und du?“

Eric, im Kostüm eines Wikingers, zieht vielsagend eine Braue nach oben. „Mit. Viel.“

Charlie verdreht stöhnend die Augen. Sie hat ja auch keine Ahnung, wie viele Entbehrungen Eric während der letzten Jahre auf dem Fangschiff monatelang auf sich nehmen musste.

Der Donnergott Thor ist auf Eric aufmerksam geworden und baut sich nun ostentativ neben der Untoten auf. „Meine charmante Begleiterin“, brummt er und schielt argwöhnisch über Charlies Schulter. „Was willst du trinken?“

„Menschenbluuut“, feixt sie. Doch der Donnergott lacht nicht.

„Das ist übrigens Eric“, fühlt Charlie sich wohl genötigt, den vermeintlichen Konkurrenten vorzustellen. „Eric Thorvaldsson. Er ist der... Irgendwiebruder von Evan.“

„Irgendwiebruder?“ Der Donnergott kratzt sich hinterm Ohr. „Wenn Evan einen Bruder hätte, wüsste ich das.“

Offensichtlich ist der Donnergott ein Freund von Evan. Er und Eric hatten in den vergangenen Tagen viel zu wenig miteinander gesprochen. Evan hatte ihn lediglich darum gebeten, ihn zu diesem bescheuerten Maskenball im Fitnessclub zu begleiten. Aber immerhin war Eric schon beim ersten Aufeinandertreffen klar, dass Charlie die Eine war, auf die Evan sein Leben lang gewartet hatte. 

„Ich bin auch nur irgendwie Evans Bruder“, merkt Eric an und hält Thor die Hand entgegen. „Und ich bin erst seit zwei Wochen hier.“

Der Donnergott ergreift sie und nickt nachsichtig. „Gregor König. Charlie ist mit mir hier. Nichts für ungut.“

„Nichts für ungut“, bekräftigt Eric zähneknirschend.

Warum ist Charlie überhaupt mit diesem Schnösel hier? Weiß Evan davon? Hat er es selbst eingefädelt? Gibt es eine Absprache? Einen Plan? Sie sollten dringend miteinander sprechen. Mehr miteinander sprechen. Er und Evan.

„Darf ich bitten?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, wird Charlie von einem Orlando Bloom Double auf die Tanzfläche gezogen. Nachdem sie mit diesem jungen Kerl Alex Adairs Remix von Ed Sheerans Thinking out loud choreografiert hat, verneigt sich ein großer Bogenschütze ritterlich vor Charlie. Evan könnte sich nun wirklich mal bemerkbar machen, findet Eric.


Nach Higher Love von Alessandro Taccini kehrt Charlie endlich zu ihm zurück. Allein.

„Bitte schön.“ Eric reicht ihr unaufgefordert einen Cocktail, woraufhin sie ihn tatsächlich mit einem misstrauischen Seitenblick bedenkt.

„Keine Sorge“, lacht er lautlos auf. Was hält sie von ihm? „Ist frei von Alkohol oder GHB.“

„Na, dann.“ Sie nippt an dem süßen Getränk. „Vielen Dank.“

Eine Weile schauen sie schweigend den Tanzenden zu.

Es wird Zeit, findet Eric. Immer noch. „Sag mal“, fragt er daher. „Was läuft zwischen dir und Evan?“

„Nichts“, gibt sie schnippisch zurück.

„Nichts?“ Hält sie ihn für blöd? „Oh, nein. Das glaube ich nicht.“

„Dann frag ihn doch selbst.“

Eric dreht demonstrativ den Kopf nach allen Richtungen. „Siehst du ihn hier irgendwo? Nein. Also. Erzähle du mir bitte...“

„Eric“, beginnt sie mit nachdenklich gerunzelter Stirn. „Ich gebe zu, schon die Tatsache, dass du irgendwie Evans Bruder bist, macht dich äußerst sympathisch. Aber wir treffen uns heute zum zweiten Mal. Glaubst du ernsthaft, dass ich dir gleich mein Herz ausschütte?“

„Natürlich“, antwortet er rotzig. Noch immer ist der derbe Ton des Schiffes vorherrschende Gewohnheit. „Warum nicht?“

Sie schnappt sprachlos nach Luft.

„Zeit ist relativ.“ Das Timbre in Erics rauer Stimme hat etwas beabsichtigt Geheimnisvolles. „Und der Moment nicht immer wie er scheint. Ist dir das bewusst?“

Die Kleine ist nicht dumm. War klar. „Du möchtest mir doch irgendetwas sagen, Eric?“

Eric zieht in gespielter Überraschung die Brauen nach oben. „Möchte ich das?“

Sie antwortet nicht.

„Was bedeutet er dir?“

„Evan ist mein nächster Herzschlag“, purzelt es buchstäblich unbeabsichtigt aus ihrem Mund und sie schlägt erschrocken die Hand davor.

Na, geht doch. Eric schnauft zufrieden. Schweigend lauschen sie der Musik.


I wanna dance by water ‘neath the Mexican sky.
Drink some Margaritas by a string of blue lights.
Listen to the Mariachi play at midnight...

 

„Are you with me?“ Evan ist endlich aufgetaucht und steht nun dicht hinter Charlie.

Sie lehnt sich zurück, umschließt seine Hand und legt sie sich um die Taille.

„Geht doch“, zwinkert Eric aus eisigen Augen und entfernt sich grinsend von dem Paar.

 

Ende, das [ˈɛndə] Substantiv, neutrum
(Zeitpunkt, an dem diese Geschichte endet und eine neue beginnt)

 

„Geht doch.“ Äußerst zufrieden entfernt sich Eric von Evan und Charlie und baut sich neben dem Donnergott, einer Piratenkönigin und dem Bogenschützen auf.

„Haben wir gut hinbekommen“, brummt Gregor und wirft einen Blick in die Runde.

Alle nicken.

„Das zeigt dann mal wieder“, die Piratenkönigin lächelt Richtung Tanzfläche, „dass man hier in Südhessen durchaus das ganz große Glück finden kann.“

Eric richtet die eisigen, hellblauen Augen auf sie.

„Alex kam aus Köln und fand Nina. Genau wie Fee Nils“, erklärt sie dem Wikinger. „Und Joe hat mich gefunden.“

Der riesige Bogenschütze drückt die zierliche Rothaarige an seine Brust. „Und Elias Ash.“

„Umgekehrt“, verbessert sie. „Aisling hat meinen Sohn gefunden.“

Unseren Sohn.“

Gregor rollt mit den Augen und schultert seinen Mjölnir, bevor er zu Eric hinabschaut.

„Alter“, keucht der. „Komm bloß nicht auf dumme Gedanken!“

Wenn das mal nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft ist.

 

 

KAPITEL eins

„Nun erzähl mal“, fordert der blonde Zweimeterhüne das bärtige Einsachtzigkraftpaket mit der verboten schlanken Taille auf, reicht ihm ein Bier und stößt an, „du Irgendwiebruder. Woher kommst du eigentlich?“

„Keine Ahnung“, antwortet Eric lakonisch. Sein kalter, stechender Blick ist auf den Inhalt des Glases gerichtet. „Dänemark? Norwegen? Schweden? Mein Vater, sofern er überhaupt mein Vater war, hat mir einen Zettel mit meinem Namen und Geburtsdatum in die Hosentasche gesteckt und mich an einer Straßenecke in Dublin ausgesetzt, als ich fünf war.“

„Und dort hat Evan dich dann gefunden“, wirft Gregor mit einem amüsierten Schnauben ein. „Oder was?“

Zu seiner Überraschung nickt Eric ernst.

„Ja. Dort hat Evan mich gefunden und mit nach Hause genommen. In den Pub seiner Eltern. Ich hatte fortan ein Dach über dem Kopf und täglich etwas Warmes im Bauch.“ Er fährt sich abwesend mit der freien Hand über den Vollbart, der ihm bis fast zur Brust reicht. „Evan hat mir Lesen und Schreiben beigebracht. Das Rechnen. Und Sprachen. Irisch natürlich, Englisch und Deutsch. Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt kein einziges Wort gesprochen. Jede freie Minute hat Evan mit mir gepaukt und mir alles beigebracht, was er wusste.“

Gregors Blick wandert hinüber zu seinem Freund, der liebevoll seine Nase hinter Charlies Ohr reibt und ihren Hals küsst. Wie Gregor aus Charlies verzückter Miene schließt, macht Evan ihr vermutlich gerade ziemlich unanständige Versprechungen.

Eine sehr üble Marilyn Monroe-Imitation stolziert wimpernklimpernd an den beiden Männern vorbei.

Eric schaut mit schweren Lidern betont zu Boden und ignoriert das provokante Schwingen ihrer ausladenden Hüften.

„Wie ging es weiter?“ Gregor lässt ebenfalls keinen Zweifel daran, dass sowohl er als auch sein neuer Kumpel kein Interesse an einem billigen Flirt mit einer noch billigeren Monroe haben.

„Als Evan nach Deutschland ging, um zu studieren, blieb ich noch ein paar Jahre bei Erin, seiner älteren Schwester, bevor es mich aus Dublin hinaus und nach Alaska zog.“

„Alaska?“

Der Wikinger mit den kalten Augen verschränkt die Arme vor der Brust. „Mit sechzehn habe ich zum ersten Mal auf einem Krabbenkutter angeheuert. Zwanzig Jahre bin ich über die Beringsee gefahren“, fügt er mit einem Ächzen hinzu. „Dutch Harbor habe ich hinter mir gelassen. Ich möchte endlich sesshaft werden. Ich will eine Werkstatt kaufen. Etwas Kleines. Aber dafür meins.“

„Eine eigene Werkstatt“, brummt Gregor schwach imponiert. „Schon was in Aussicht?“

„Hmhm.“

„Apropos Aussicht.“ Er deutet mit dem Kinn zum Nachbartisch.

Eric folgt seinem Blick – hinüber zu dem durchaus ansprechenden Feentrio – und verdreht die Augen. „Ähm...“

„Alter?“ Gregor taxiert ihn. „Bist du schwul?“

Der Wikinger grinst schief und kräuselt die Nase. „Hm. Zwei Monate allein mit acht Kerlen auf hoher See? Das wäre sicher sehr unterhaltsam geworden.“

Das Feentrio, traditionell in Blau, Rot und Grün, prostet ihm und Gregor mit Sektgläsern zu.

„Du kannst gerne Dornröschen spielen“, erklärt Eric. „Ich bin da raus.“

„Wieso das denn?“ Gregor schaut zwischen ihm und den Feen hin und her. „Die sind doch süß.“

„Ja“, keucht Eric. „Die sind süß. Süß. Die furzen Zucker.“

„Ah“, grinst Gregor. „Verstehe.“

Wie auf Zuruf stolpert Catwoman in die Arme des Wikingers. „Hoppla.“

„E-en-ent-entschuldigung“, stottert die Katzenfrau im ledernen Ganzkörperkostüm und krallt die behandschuhten Finger in Erics Oberarme. „Das tut mir leid.“ Schnell kommt sie wieder auf die Beine und richtet verlegen die kleinen Ohren an ihrer Katzenmaske.

„Mir nicht.“ Erics Mundwinkel hebt sich verheißungsvoll und seine Augen schimmern noch heller und noch eisiger.

Catwoman starrt ihn mit offenem Mund gebannt an.

„Alles in Ordnung mit dir?“

Sie nickt nervös.

„Gut.“ Eric wendet sich ab und leert sein Glas in einem Zug. „Ich hole noch zwei“, sagt er an Gregor gewandt und raunt Catwoman im Vorbeigehen zu: „Schönen Abend noch.“

 

„Kannst du mir vielleicht mal verraten“, fragt Gregor einige Minuten später konsterniert und nimmt sein Bier entgegen, „warum du die heiße Braut gerade abserviert hast?“

Eric fährt mit dem Zeigefingerfinger über den Rand seines Glases. Dann sagt er ruhig: „Weil sie Angst hat.“

„Weil sie Angst hat?“ Gregor massiert sich argwöhnisch die linke Schläfe. „Wie bist du denn drauf?“

„Ich“, erklärt Eric und schaut ihm fest in die Augen, „habe verdammt viel Zeit auf dem Schiff zugebracht. Die Jungs auf so einem Kutter haben weder ein Übermaß an Geduld noch sind sie für besonderes Feingefühl bekannt.“ Er legt eine Hand auf Gregors Schulter. „Hast du nicht gesehen, wie verschreckt das Kätzchen war?“

Gregor zuckt unbestimmt die Achseln und nickt vage.

„Die hätte ich erst brav nach Hause bringen und ihr versichern müssen, dass das zwischen uns beiden etwas ganz Besonderes ist, bevor sie mich rangelassen hätte.“ Eric strafft den Rücken. „Ich will nicht reden. Ich will ficken. Verstehst du?“

„Mhm. Ja.“ Beeindruckt von Erics Offenheit stößt Gregor mit ihm an, als sich plötzlich eine junge Frau neben ihm räuspert.

„Respekt“, schnarrt die brünette Schönheit – eine verblüffende Kopie der Kaiserin Sissi – und unterzieht Eric ungeniert einer eingehenden Musterung. „Endlich mal ein Typ, der einer Frau keine Märchen erzählt, um zu bekommen, was er will.“

Eric zieht die rechte Augenbraue und den linken Mundwinkel nach oben und neigt den Kopf.

Dieses Mienenspiel lässt den Kerl auf eine echt irre Weise gefährlich aussehen, findet Gregor und beobachtet gespannt das weitere Geschehen.

„Ich bin Elisabeth“, lächelt die Kaiserin alles andere als sittsam.

Aber natürlich bist du das, denkt Eric. Er wirft seinem Kumpel einen vielsagenden Blick zu, bevor er antwortet: „Ich bin Ragnarr.“

Gregor verkneift sich ein Ich bin Thor! und verbirgt sein Grinsen hinter dem Bierglas.

 

Die Elisabeth erweist sich als durchaus charmante und äußerst unterhaltsame Gesprächspartnerin. Wenigstens so lange, bis sie sagt: „Eine Frau weiß in Sekunden, ob sie einen Kerl heiraten, ficken oder töten will.“ Sie legt den Zeigefinger auf Erics breite Brust. „Dich will ich ficken. Jetzt.“

Als ob er sein Einverständnis einholen will, sieht Eric zu Gregor hinüber.

Das wohlwollende Grinsen entgleitet Gregor just in jenem Moment, als Elisabeth ihm zuraunt: „Und dich will ich heiraten.“

„Immerhin nicht töten“, zwinkert Eric und manövriert die Kaiserin Richtung Toiletten.

„Äh-äh“, schüttelt sie den Kopf und für einen kurzen Augenblick flammt Ärger in ihm auf.

Will sie jetzt etwa einen Rückzieher machen?

Elisabeth blickt über ihre Schulter und schmunzelt. „Ich habe einen Schlüssel.“

 

Unbemerkt schlüpfen sie an den Gästen vorbei in den hinteren Bereich des Fitnessclubs zu den Räumen, die mit Kein Zutritt, Büro und Personal gekennzeichnet sind. Elisabeth öffnet Letztere und Eric schiebt sie ungeduldig hinein.

„Wir müssen uns beeilen“, flüstert sie und macht sich sofort an seinem Gürtel zu schaffen.

Mit dem Fuß schließt Eric die Tür hinter sich. Soll mir nur recht sein, denkt er. Ich hatte schon viel zu lange keinen Sex mehr.

Elisabeth schiebt die Hand in seine Hose und umfasst die bereits gewaltige Erektion. Sie zieht eine feuchte Spur Küsse über seinen Hals, während sie ihn reibt.

Als ihre Lippen seinen Mund erreichen, packt Eric Elisabeth im Nacken und reißt ihren Kopf zurück. „Das mag ich nicht“, faucht er ihr unwirsch ins Ohr. Er wirft Elisabeth vornüber auf einen Tisch und rafft blitzschnell ihre Röcke, freudig überrascht, dass sie kein Höschen trägt.

Elisabeth keucht, als er ohne Vorwarnung mit zwei Fingern in sie eintaucht, einmal, zweimal.

Er lässt die triefnassen Glieder über ihre Scham und die Ritze ihres Pos gleiten, bevor er den linken Unterarm gegen ihren Rücken presst. Grob nagelt er ihren Oberkörper auf den Tisch fest, streift mit der freien Hand das Kondom über und dringt schließlich hart und rücksichtslos in sie ein.

Elisabeth schreit ihre Lust laut hinaus, während Eric immer heftiger zustößt und ihre Klitoris mit dem Daumen bearbeitet.

Als er kommt, packt er mit beiden Händen ihre Hüfte, wirft den Kopf in den Nacken und atmet schließlich grollend aus. Es klingt beinahe wie das Knurren eines Tieres.

Leise vernimmt Eric ein Wimmern.

„Ragnarr? Das tut weh.“

„Was?“ Leicht desorientiert blickt er auf die nunmehr zitternde Kaiserin, in der er noch immer steckt.

„Ragnarr“, wiederholt sie.

Eric verzieht das Gesicht, hält mit Daumen und Zeigefinger das Kondom an der Peniswurzel fest und gleitet aus ihr hinaus.

Sie seufzt erleichtert, richtet sich schwer atmend auf und dreht sich zu ihm um. „Du packst ja ziemlich fest zu“, stellt sie wenig überraschend fest und massiert sich die Hüftknochen.

„Hat es dir nicht gefallen“, fühlt Eric sich bemüßigt, zu fragen. Er lässt das Kondom achtlos in einen Papierkorb fallen und entdeckt dabei die Tür zu den Toiletten für das Clubpersonal. Ohne ihre Antwort abzuwarten, verschwindet er dahinter.

Als er – im unteren Bereich gewaschen und erleichtert – in den Aufenthaltsraum zurückkehrt, lehnt Elisabeth am Tisch. „Du bist kein Gentleman“, sagt sie mit säuerlicher Miene.

„Und du keine Lady“, gibt er zurück und stößt ein freudloses Lachen aus.

Elisabeth streckt ihre Hand nach ihm aus. „Bekomme ich keinen Kuss?“

Eric neigt den Kopf erst nach rechts, dann nach links und schiebt das Kinn vor. „Ich sagte, ich mag das nicht.“

„Warum nicht?“

Ohne eine Antwort schlendert er gleichgültig an ihr vorbei.

Energisch stößt Elisabeth sich vom Tisch ab. „War das jetzt alles?“

Eric öffnet die Tür.

„Bist du ein Psycho, oder was?“ Sie schleudert ihm die Worte wütend in den Nacken.

Er verharrt an Ort und Stelle. Ohne sich umzudrehen, erwidert er: „Du wolltest ficken. Ich habe dich gefickt. Wir beide sind fertig.“

„Du krankes Arschloch“, hört er sie kreischen, als er sich auch schon schief grinsend auf den Weg zurück an den Stehtisch macht.

Gregor, Evan und Charlie warten bereits mit einem Glas Whisky auf ihn.

 

Anfang, der [ˈanfaŋ] Substantiv, maskulin
(Zeitpunkt, an dem eine Geschichte endet und eine andere beginnt)

 

„Walter hat mir gekündigt.“ Ich pfeffere meine Tasche aufs Sofa und mich gleich hinterher.

„Was?“

„Walter hat mir gekündigt.“

„Einfach so?“

„Nein“, knurre ich. „Mit Spezialeffekten.“

Rick stöhnt. „Verarschen kann ich mich selbst.“

„Nicht so gut wie ich.“

„Soll das lustig sein?“

„Nein. Sonst würde ich lachen.“

„Lachen“, knurrt Rick. „Weißt du noch, wie das geht?“

Ich ignoriere den unterschwelligen Vorwurf, lege den Kopf zurück und schließe die Augen.

„Walter hat dir gekündigt?“

„Ja-haaa.“

„Warum?“

Stöhnend erhebe ich mich vom Sofa und schlüpfe aus Parka und Stiefel. „Er hat verkauft.“

„Er hat verkauft?“

„Er hat verkauft.“

„Sind wir auf einer Logopädenkonferenz, oder was?“ Jakob schlendert mit einem Stück Pizza aus der Küche und gibt mir einen leicht käsesalamiundtomatelastigen Kuss. „‘nabend, Mum. Wie war dein Tag?“

„‘nabend, mein Schatz.“ Liebevoll fahre ich meinem siebzehnjährigen Sohn mit den Fingern durch die rabenschwarzen Locken. Die trägt er nämlich kinnlang, seit man an seiner Schule die verblüffende Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Serienstar Kit Harington alias Jon Snow aus Game of Thrones bemerkt hat. „Wie war deine Matheklausur?“

Er zieht vage die Schultern nach oben, rollt das Pizzastück zusammen und schiebt es sich auf einmal in den Mund.

„Jakob“, nörgelt Rick. „Das ist widerlich.“

„Iff weiff.“

Mein linker Mundwinkel zuckt und ich wende mich ab.

Rick kann manchmal so ein Knigge sein. Dabei leben wir nun schon seit mehr als sechzehn Jahren zusammen, haben uns die Betreuung und Erziehung von Jakob von Anfang an geteilt. Nicht immer ein Zuckerschlecken. Jakob war ein enorm aufgewecktes und wildes Kind. Permanent schoss er in seinen Vorstellungen und seinem Handeln weit über das Ziel und die eigenen Grenzen hinaus. Aufgeregte Nachbarn, verzweifelte Erzieherinnen, resignierte Ärzte und angespannte Lehrer. Wir übten uns in Verständnis, Nachsicht und Geduld – und wurden belohnt, als Jakob in die Pubertät und damit bei sich selbst ankam. Während für die meisten Jugendlichen Pubertät ein stetes Auf und Ab der Gefühle bedeutet, glätteten sich Jakobs emotionale Wogen. Er wurde ruhiger und wandelte das Übermaß an körperlicher Energie in geistige um. Er ist noch immer ein Draufgänger. Aber wesentlich charmanter.

„Und jetzt noch mal“, sagt Jakob – glücklicherweise mit nun leerem Mund. „Wer hat was verkauft?“

„Walter“, antworte ich seufzend. „Die Werkstatt.“

In Erwartung weiterer Ausführungen hält er mir die Hände entgegen und wackelt auffordernd mit den nach oben gerichteten Handflächen.

Rick reicht mir ein Glas Rotwein und schiebt mich zum Sofa. „Die alte Schnapsdrossel wollte die Werkstatt doch schon lange loswerden, oder?“

Schnapsdrossel? formt Jakob lautlos mit dem Mund und schmunzelt überrascht.

„Ja. Und daher hat er auch das erstbeste Angebot angenommen.“

„Und was ist mit dir? Wirst du übernommen?“

Jakob kann die Antwort in meinem Blick lesen, noch bevor ich frustriert den Kopf schüttele. „Ich bin mit sofortiger Wirkung freigestellt“, erkläre ich. „Der neue Eigentümer hat bereits meine Abfindung gezahlt.“

„Nirgendwo wird er eine bessere Mechanikerin finden als dich.“ Jakob lässt sich fassungslos neben mir aufs Sofa fallen. „Wollte er keine Referenzen sehen? Hast du mit ihm gesprochen? Hat Walter mit ihm über dich gesprochen? Was hat er gesagt?“

„Nein, wollte er ganz offensichtlich nicht. Keine Referenzen. Keine Altlasten. Und erst recht keine Frau. Und Walter hat schon lange nur noch interessiert, dass ich den Laden am Laufen gehalten habe, während er im Büro seinen Rausch ausschlief. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihn zuletzt nüchtern gesehen habe“, seufze ich resigniert und nippe am Rotwein. „Scheiße.“

„Du musst das positiv sehen“, appelliert Rick.

„Schöne Scheiße?“

„Du bekommst die Abfindung und nimmst dir erst einmal eine Auszeit.“

Ich verziehe das Gesicht. „Das sind zehntausend Euro. Da ist nicht viel Zeit für Aus.“

„Du kannst klagen“, schlägt Jakob vor. Allerdings nur mäßig passioniert.

Rick tippt sich nachdenklich mit dem Finger auf die Nase. Schließlich hält er ihn in die Höhe. „Warte nur mal einen ganz, ganz kleinen Moment, bitte.“

Jakob und ich beobachten, wie er aufgeregt aus dem Wohnzimmer eilt, um in der Küche zu telefonieren. Kurze Zeit später kehrt er mit einem zufriedenen Grinsen zurück. „Ich habe gerade mit Fee gesprochen. Ihrem Mann, Nils, gehört das Sechsundsiebzig. Das liegt schräg gegenüber der Spiegelreflexzone“, erklärt er den genauen Standort seines Arbeitsplatzes und dessen Umgebung, indem er kleine Striche, Kreuze und Kreise in die Luft zeichnet.

„Schön“, merke ich an. „Deine Chefin weiß, wo ihr Mann arbeitet.“

Ricks eben noch heitere Miene verdunkelt sich. „Ich weiß jetzt auch, woher der Junge das hat“, mault er mich an. „Lass mich ausreden und höre zu.“

Gehorsam presse ich die Lippen aufeinander.

„Nils sucht händeringend eine Kellnerin.“

„Ich habe keine.“

Auf Ricks Stirn bilden sich nun kleine rote Punkte, die anzeigen, dass ich mich fortan besser mit dem nötigen Ernst am Gespräch beteiligen sollte.

Ich räuspere mich. „Ich habe das nicht gelernt.“

„Aber du hast schon oft gekellnert und bist zumindest keine Vollkatastrophe. Also jedenfalls nicht immer.“

„Danke.“

„Bitte.“

„Das Sechsundsiebzig ist ein cooler Laden“, wirft Jakob mal so nebenbei ein.

Ich weiß, dass er mir durch die Blume sagen möchte, ich solle mir einen Ruck geben und mich auf den Job bewerben.

Rick nimmt mein Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen. „Du gehst also morgen hin und schaust dir das mal an?“

„Hm.“

„Wie sagt man?“

„Ja, Rick. Ich verspreche, ich werde morgen hingehen und es mir ansehen“, leiere ich betont genervt herunter. „Danke schön.“

„Bitte schön“, brummt er zufrieden. „In der Zwischenzeit kannst du dich immer noch nach einer neuen Werkstatt umsehen. Oder...“

„Nein“, falle ich ihm sofort ins Wort. „Auf keinen Fall.“

Wir wissen beide genau, wovon die Rede ist. Ich war gerade fünfzehn, als Rick mich bei der Theateraufführung des Kinderheims St. Vincent entdeckte. Er war auf der Suche nach jungen, unverbrauchten Talenten. Mit meinem muskulösen, einer Schwimmerin ähnlichen Körperbau, entsprach ich ganz dem Schönheitsideal der achtziger Jahre, bei dem sich alles nur um Fitness und definierte Muskeln drehte. Ricks besonderer Einfluss auf die Heimleitung ermöglichte es mir, an zahlreichen Shootings in Europa teilzunehmen und dadurch auch mein Deutsch zu perfektionieren, das ich mir von zwei Zimmergenossinnen angeeignet hatte. Als ich mit Jakob schwanger wurde, gab ich das Modelgeschäft auf, kehrte kurze Zeit später meiner Heimat den Rücken und wanderte 2000 gemeinsam mit Rick nach Deutschland aus. Während ich eine Ausbildung zur Kraftfahrzeugmechanikerin absolvierte, arbeitete Rick als freier Fotograf für Zeitungen und Kataloge. Vor etwa neun Monaten überredete er mich tatsächlich, für einen Tattookalender zu posieren. Dank Photoshop machte ich sogar noch eine überraschend gute Figur und erhielt einige Folgeaufträge, mit denen ich Jakobs Sparkonto auffüllen konnte. Doch das Modeln ist einfach nicht mehr meine Welt. Und mit fünfundvierzig fühle ich mich inzwischen echt zu alt für diesen Scheiß.

„Fee hat neulich erwähnt“, ignoriert Rick geflissentlich meine grundsätzliche Ablehnung weiterer Fotoaufnahmen gegenüber, „dass ihr bester Freund auf der Suche nach...“

„Was hast du an Nein nicht verstanden, Rick?“

„Ich wollte nur Konversation betreiben.“

„Klar.“

„Hm.“

Wir schweigen und starren auf den Bildschirm, wo Leonardo DiCaprio alias Jordan Belfort in der US-amerikanischen Filmbiografie The Wolf of Wall Street gerade einer Prostituierten mit einem Strohhalm Koks in den Anus bläst.

„Mum?“ Jakob fährt sich mit der Hand durchs Haar. „Ich möchte mich tätowieren lassen.“

Statt dem ersten Impuls zu folgen und meinem Sohn zu raten, er möge sich das bitte noch einmal überlegen und auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, schlucke ich fest und frage: „So? Und welches Motiv?“

Rick wirft mir einen verständnisvollen Blick zu. Er weiß, dass ich Jakob diese Idee nicht ausreden kann. Schon gar nicht, weil ich selbst großflächig tätowiert bin. Angefangen bei den Armen, welche von den Schultern bis zu den Fingerknöcheln lückenlos mit Farbe gefüllt sind, über das Dekolleté bis zu den Brüsten und schließlich den Hals hinauf bis knapp unters Kinn. Meine Motivation war jedoch eine ganz andere.

Jakob fingert seine Geldbörse aus der Gesäßtasche und zieht ein altes Foto heraus. Es ist das Original der großformatigen Aufnahme im Flur und zeigt mich am Strand des Mississippi. Barfuß im weißen Sommerkleid und mit Neunmonatsbauch.

 

KAPITEL zwei

Sorge, meine Tattoos könnten bei Nils Merveilleux, dem Eigentümer des Sechsundsiebzig, auf Ablehnung stoßen, brauche ich eindeutig nicht zu tragen. Er selbst ist der permanenten Körperbemalung äußerst zugetan. Und sieht außerdem aus wie David Beckham, stelle ich angenehm überrascht fest.

„Lilli Maurer?“ Nils kommt mit schräg gelegtem Kopf auf mich zu, als ich mit meiner roten Bewerbungsmappe unter dem Arm sein Geschäft betrete.

Ursprünglich war das Sechsundsiebzig ein Kaufhaus – mit großer Glasfront, einem Lager, Aufenthaltsraum und Büro. Nils schloss eine Marktlücke, indem er den alten Laden renoviert und umgebaut hat, sodass sich nun in vorderster Front ein Café mit Bar befindet, während der Lagerraum in einen Frisörsalon und der Aufenthaltsraum zum Kosmetikstudio umgewandelt wurde. Inzwischen gibt es noch einen Teilhaber: Barchef Alexander Ander.

„Ja“, antworte ich und bleibe überrascht stehen.

Nils lächelt und reicht mir die Hand. „Nils Merveilleux. Meine Frau Fee sagte mir bereits, dass du heute vorbeikommen würdest. Du bist die Lebensgefährtin von Rick?“

„So etwas ähnliches.“

Rick ist mein bester Freund. Mein einziger Freund. Und Rick ist asexuell. Asexuell ist nicht etwa gleichbedeutend mit sexueller Abstinenz, welche den selbst auferlegten Verzicht trotz vorhandener Fähigkeit und Motivation dafür bezeichnet. Wie in meinem Fall. Rick verspürt weder Trieb noch Anziehungskraft. Das heißt jedoch nicht, dass er keine enge und emotionale Freundschaft kennt. Er findet nur lediglich keinen Reiz an Liebe oder sexueller Interaktion. Das macht unsere Beziehung so besonders.

„Wie geht so etwas ähnliches“, fragt Nils auch direkt.

„Ähm... wir leben... zusammen“, stottere ich und hake den Job gedanklich schon ab. „Weiter nichts.“

„Okay.“ Nils zupft sich am Ohrläppchen. „Ich kenne Rick noch nicht so gut. Er arbeitet ja erst seit zwei Monaten in der Spiegelreflexzone. Aber wenigstens trete ich jetzt bei ihm nicht mehr ins Fettnäpfchen, was den Beziehungsstatus angeht.“

„Er ist da ziemlich schmerzbefreit“, wiegele ich ab und presse die Bewerbungsmappe fester an meine Brust. Ein Schutzmechanismus, der mir seit Jahren anhaftet.

„Kannst du das“, Nils deutet auf die Mappe, „vielleicht mal weglegen?“

Meine rechte Augenbraue schnellt nach oben.

„Ganz ruhig. Ich will dir nicht in den Ausschnitt glotzen“, erklärt er lachend. „Ich denke nur, Papierkram brauchen wir nicht. Also? Was möchtest du trinken? Kaffee? Ich hätte nämlich gerne einen.“

„Okay.“ Ich verstehe, straffe die Schultern und gehe direkt hinter den Tresen. „Den Kaffee schwarz? Oder einen Milchkaffee?“

„Ach, ich weiß nicht.“ Nils macht eine furchtbar nachdenkliche Miene.

„Espresso vielleicht? Latte Macchiato? Cappuccino oder Irish Coffee“, lese ich von der Karte ab.

„Latte Macchiato. Bitte.“

„Mit oder ohne Alkohol?“

„Ohne.“

„Mit oder ohne Aroma?“

„Klingt ein bisschen wie bei Starbucks. Also? Was können Sie mir denn empfehlen, junge Dame?“ Nils nimmt lässig auf einem Barhocker Platz und grinst breit.

Ich blicke mich betont um und beuge mich dann über den Tresen dicht an sein Ohr. „Ich bin neu hier“, flüstere ich beinahe geheimnisvoll, „und habe noch keine Ahnung wie das Zeug schmeckt. Aber im Angebot haben wir Mandel, Schokolade, Honig, Karamell, Pistazie, Zimt, Kokos und Vanille. Ich persönlich würde zunächst Karamell probieren und mich dann allmählich durcharbeiten.“

„Klingt nach einer guten Idee.“

„Es ist eine gute Idee“, antworte ich bestimmt und beginne schon mit der Zubereitung.

Der Thekenbereich ist ausgesprochen ordentlich, aufgeräumt und gut sortiert, sodass ich mich leicht und schnell zurechtfinde und nur drei Minuten später zwei Latte Macchiato auf den Tresen stelle.

Nils nimmt einen großen Schluck und verzieht das Gesicht.

Mit einem raschen Blick überprüfe ich das Etikett der Aromaflasche. Karamell. „Was...?“

„Schmeckt hervorragend“, zwinkert er und bricht in Gelächter aus. „Reingelegt.“

Ich strecke ihm die Zunge heraus.

„Erzähl mir was von dir.“

Das ist der Moment, in dem mir immer etwas flau wird. Ich gehe nicht mehr unter Menschen. Nicht freiwillig. Und noch weniger mag ich etwas von mir preisgeben. Doch wie so vieles im Leben, ist auch das unvermeidbar.

Ich räuspere mich. „Ich bin fünfundvierzig, wohne im Johannesviertel in Darmstadt – mit Rick, wie du ja weißt – und bin gelernte Mechanikerin. Gekellnert habe ich nur, wenn mein ehemaliger Arbeitgeber mal wieder einige Monate mit dem Lohn in Verzug war.“

„Kam das sehr oft vor?“

„Häufiger.“

Nils betrachtet mich eine Weile und streicht sich dabei mit den Fingerspitzen nachdenklich über die Unterlippe.

„Ich bin keine ausgebildete Servicekraft“, gebe ich hinsichtlich einer Entscheidungsfindung ehrlich zu bedenken, „und habe auch nicht vor, eine zu werden. Früher oder später möchte ich wieder als Kraftfahrzeugmechanikerin arbeiten.“

„Gut.“ Nils legt die Stirn in Falten und beide Hände flach auf den Tresen. „Deine Ehrlichkeit weiß ich wirklich zu schätzen, Lilli. Aber ich brauche dringend eine Kellnerin. Jetzt.“ Seine türkisblauen Augen bohren sich in mein Gesicht.

Ich straffe die Schultern und recke das Kinn. Damit lenke ich immer wieder überzeugend von meiner Verunsicherung ab.

„Meinetwegen kannst du dich nach einem anderen Job umschauen. Dafür habe ich vollstes Verständnis. Solange du hier ordentliche Arbeit leistest und mir rechtzeitig Bescheid gibst, sobald du etwas gefunden hast.“

„Du willst mich?“

„Oh ja, Baby“, stöhnt er augenzwinkernd. „Ich will dich. Jetzt und hier.“

Ich hebe die Hand für ein High Five und Nils klatscht ab.

 

„So geht das also?“

Beim Klang dieser Stimme stellen sich unvermittelt meine Nackenhaare auf. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich halte die Luft an und schließe die Augen, während die Vergangenheit mich einholt.

„Nils, du alter...“ Mitten im Satz stockt er. „Nein. Das...“

Ich höre seine Schritte, näher und näher und schließlich zum Stillstand kommen.

„Das glaube ich jetzt nicht.“

Sein Duft – noch derselbe wie damals – steigt mir in die Nase.

Warmer Atem trifft meine Haut, als er überrascht fragt: „El... Lilli?“

Ich blicke auf und schaue in die eisblauen Augen von Joseph Hunter. „Hallo Joe.“

Nils rückt näher an uns heran. „Ihr beide kennt euch?“

Joe nickt abwesend. Sein Blick, so voller Wiedersehensfreude, betrachtet mich eingehend. „Du hast dich nicht verändert. Nur“, er streckt die Hand aus und streicht mir zärtlich über die Wange, „die Haare sind kurz.“

„Deine sind lang“, erwidere ich so gelassen und entspannt ich nur kann. Noch immer klopft mir das Herz bis zum Hals. Erst recht nach seiner vertrauten Berührung. „Was soll eigentlich diese Drei-Musketiere-Gedächtnis-Rasur?“

Um Joes Augen bilden sich kleine Fältchen, als er lächelt. „Greta mag das so.“

„Greta?“ Seine Worte sind wie feine Nadelstiche, doch ich lasse mir nichts anmerken. „Du hast sie also endlich gefunden?“

Joe umhüllt eine Aura voller Glück und tiefer Zufriedenheit. „Stell dir vor. Sie wohnt auch in Darmstadt. Schon seit fünfundzwanzig Jahren.“

„Wieso auch?“

Er grinst und setzt sich auf einen Barhocker. „Ich habe gerade erst ein neues Studio eröffnet. In Darmstadt. Mit meinem Sohn.“

„Du hast...“ Ich verschlucke mich beinahe an meiner eigenen Spucke. „Du hast einen Sohn?“

„Ja.“ Er strahlt Stolz und Freude aus. „Elias ist dreißig und mein und Gretas Sohn.“

„Glückwunsch“, krächze ich und möchte mich auf der Stelle übergeben.

„Woher kennt ihr euch?“ Nils blickt gespannt zwischen Joe und mir hin und her.

Ich widme meine Aufmerksamkeit dem Macchiatorest im Glas.

Aber auch Joe zögert offensichtlich. „Wir haben uns Sechsundneunzig in Hesperia kennengelernt“, antwortet er besonnen. „Ich habe zu dieser Zeit bei Nikko gearbeitet und wollte Lilli unbedingt tätowieren.“

„Das hast du damals nicht geschafft.“ Ein wehmütiges Lächeln legt sich auf meine Lippen. Die Erinnerungen sind so schön und vermengen sich mit dem Schmerz der Vergangenheit.

„Das nicht“, haucht er.

„Du kommst aus Hesperia“, möchte Nils wissen.

Ich schüttele den Kopf. „Ich war nur zwei Tage dort.“

Aber es waren die schönsten zwei Tage meines Lebens, füge ich in Gedanken hinzu.

„Lilli war Model“, sagt Joe und verrät damit schon mehr als mir lieb ist.

„Kann ich dir etwas zu trinken anbieten, Joe? Dann plapperst du vielleicht nicht so viel?“

„Nette Bedienung“, zwinkert er Nils zu. „Ist die neu?“

Nils lässt sich nicht ablenken. „Aber die Tattoos...“

„Sind von mir“, bestätigt Joe und sein Gesicht nimmt einen unendlich traurigen Ausdruck an. „Die kamen drei Jahre später, als ich in French Quarter gearbeitet habe.“

Ich räuspere mich warnend.

„Danach haben wir uns aus dem Augen verloren“, murmelt er gedankenverloren und legt seine Hand auf meine. „Wie ist es dir ergangen?“

„Ich habe mir mit Rick eine Wohnung genommen und eine Ausbildung gemacht. Model ist schließlich ein temporärer Job.“

„Rick.“ Lächelnd klemmt Joe seine Nase zwischen Zeige- und Mittelfinger ein. „Wie geht es ihm?“

„Arbeitet bei Fee“, antwortet Nils statt meiner. „Seit zwei Monaten.“

„Und du?“

Ich fahre mir mit beiden Händen durchs kurze Haar, das wie immer wild in alle Richtungen steht. „Arbeite bei Nils. Seit heute.“

Joe runzelt die Stirn. „Was ist aus deinem Traum geworden?“

„Kündigung nach fünfzehn Jahren. Das ist daraus geworden.“ Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. Mein Herz wird jedoch ein bisschen weiter, als mir so unerwartet bewusst wird, dass Joseph sich daran noch erinnert.

In seiner Hose stimmt Ed Sheeran gerade Thinking out loud an. „Lilli“, sagt Joe und rutscht vom Barhocker, um das Smartphone aus der Gesäßtasche zu fischen, „wir sollten...“

„Nein“, falle ich ihm entschieden ins Wort. „Wir sollen gar nichts, Joe.“

Er stellt das Gerät lautlos und legt es auf den Tresen. „Lilli? Warum?“

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter. „Weil ich nicht in der Vergangenheit leben will, Joe. Weil ich es nicht kann. Neben Rick weißt du das am allerbesten.“

„Hm“, brummt Joe und reibt sich mit der flachen rechten Hand die linke Wange. „Denkst du nicht, dass alles einen Grund hat? Hesperia? French Quarter? Und jetzt hier? Im Heute?“

Ich verdrehe die Augen.

„Wir sollen uns immer wieder über den Weg laufen, Lilli.“

„Nein“, schüttele ich bestimmt den Kopf. „Nein. Sollen wir nicht. Das ist Blödsinn. Du hast dein Leben und ich... habe darin nichts verloren.“

„Lilli“, seufzt Joe. „Ich bitte dich. Das ist jetzt Blödsinn.“

Nils, der unserem Gespräch bislang schweigend folgte, bringt sich nun ein. „Joe? Wäre es vielleicht möglich, dass Lilli nicht...“

Joes finsterer Blick bringt ihn auf der Stelle zum Schweigen.

„Okay“, brummt Nils. „Eure Sache.“

„Lilli...“

„Joe? Lass es einfach. Bitte.“

Seine eisblauen Augen bohren sich in mein Gesicht. „Okay, Lilli. Wie du möchtest.“ Er beugt sich über den Tresen, nimmt mein Gesicht in seine Hände und platziert einen Kuss auf meine Stirn. „Ist trotzdem schön, dich wiederzusehen.“

 

Vergangenheit, die [fɛɐ̯ˈgaŋənhait] Substantiv, feminin
(die Zeit, die der Gegenwart vorangeht)

 

„Woher kennt ihr euch?“ Neugierig blickt Nils zwischen Joe und Lilli hin und her.

Letztere widmet ihre Aufmerksamkeit sichtlich beklommen dem Latte Macchiato zwischen ihren Händen.

Sie ist noch verschlossener geworden, stellt Joe bekümmert fest und hätte nicht gedacht, dass dies nach ihrer letzten Begegnung überhaupt noch möglich war. Er antwortet daher nur sehr zögerlich. „Wir haben uns Sechsundneunzig in Hesperia kennen gelernt. Ich habe zu dieser Zeit bei Nikko gearbeitet und wollte Lilli unbedingt tätowieren.“

Lilli war gemeinsam mit großflächig tätowierten, männlichen Models zu Werbeaufnahmen für und in Nikkos Studio engagiert worden. Ihr blasser Teint und die großen, beinahe schwarzen Augen standen einerseits in einem ansprechenden Kontrast zu den farbigen Muskelpaketen, zwischen denen sie posierte. Andererseits schmiegte sie sich mit ihrer Schwimmerinnenfigur nahezu perfekt in das Gesamtbild ein.

„Das hast du damals nicht geschafft.“ Ein wehmütiges Lächeln legt sich auf ihre Lippen.

„Das nicht.“ Joes Gedanken gleiten ab...

Es war Nikko, der ihn an diesem lauen Herbsttag verdrießlich am T-Shirt zupfte. „Hunter“, brummte er, offensichtlich mit den engagierten Models unzufrieden. „Du machst das mal.“

„Was?“

„Zieh dich aus und schnapp dir das Mädchen.“ Der Studioinhaber schubste seinen freien Mitarbeiter ins Scheinwerferlicht. „Du“, ranzte er alsdann Lilli an. „Das Oberteil muss weg. Und der Slip auch.“

Lilli sah zu Rick hinüber, der ihr knapp zunickte, und zog sich anschließend aus.

„Nun mach schon“, drängte Nikko den nicht nur völlig überrumpelten, sondern auch ziemlich überforderten Joe. „Stelle dich hinter das Mädchen und lege die Hände flach auf ihre Brüste.“

Er befolgte Nikkos Anweisungen, auch wenn ihm allmählich der Schweiß ausbrach.

Lilli, die ihre Scham mit einer Hand bedeckte, flüsterte durch zusammengebissene Zähne: „Hast du heute noch nicht masturbiert?“

„Was? Nein“, keuchte er entrüstet. „Wieso sollte ich?“

„Weil das viele männliche Models vor so einem Shooting tun, damit das hier“, sie legte eine Hand auf die Außenseite seines Oberschenkels, presste ihren Rücken fester gegen seine Brust und Joes leichte Erektion wuchs sich zu einer härteren aus, „nicht passiert. Das ist unprofessionell.“

„Ich bin ja auch kein Model“, knurrte er. „Also unternimm du gefälligst etwas dagegen.“

„Spinnst du“, zischte Lilli und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Kamera zu.

„Du kommst aus Hesperia“, dringt Nils‘ Stimme dicht an Joes Ohr und reißt ihn damit aus seinen Erinnerungen.

„Ich war nur zwei Tage dort“, antwortet Lilli kopfschüttelnd.

Um zu verneinen? Oder um die Bilder aus dem Kopf zu bekommen, die sich nun auch vor Joes innerem Auge auftun: Zerwühlte Laken, Schweißperlen auf nackter Haut. Küsse, die nach süßem Rotwein schmeckten. Sex, der für einen Augenblick die Unendlichkeit berührte.

„Lilli war Model“, sagt Joe und weiß bereits, dass er besser die Klappe gehalten hätte, als die Worte auch schon aus seinem Mund gepurzelt sind.

„Kann ich dir etwas zu trinken anbieten, Joe? Dann plapperst du vielleicht nicht so viel?“

„Nette Bedienung“, zwinkert er Nils zwecks Themenwechsel zu. „Ist die neu?“

Doch der Mann seiner besten Freundin lässt sich nicht ablenken. „Aber die Tattoos...“

„Sind von mir“, bestätigt Joe schließlich zähneknirschend und droht erneut, gedanklich in die Vergangenheit abzudriften. In einen ganz düsteren Teil davon. „Die kamen drei Jahre später, als ich in French Quarter gearbeitet habe.“

Lilli räuspert sich und Joe versteht die Warnung in dieser Geste.

„Danach haben wir uns aus dem Augen verloren“, murmelt er, bedauernd zwar, aber dennoch voller Verständnis. Joe legt seine Hand auf Lillis. „Wie ist es dir ergangen?“

„Ich habe mir mit Rick eine Wohnung genommen und eine Ausbildung gemacht. Model ist schließlich ein temporärer Job.“

„Rick.“ Joe klemmt seine Nase zwischen zwei Finger. Er mochte Rick Taylor. Schon immer. Lillis Mentor, Manager, Fotograf, Freund. Und in den vergangenen Jahren sicher auch Anker. „Wie geht es ihm?“

„Arbeitet bei Fee“, antwortet Nils für sie. „Seit zwei Monaten.“

„Und du?“ Joe beobachtet – nicht weniger fasziniert als damals in Kalifornien – wie Lilli sich mit beiden Händen durchs inzwischen kurze, aber gleichbleibend schokoladenbraune Haar fährt, das wild in alle Richtungen steht.

Angestrengt presst sie ihre vollen Lippen aufeinander und wirkt dabei ebenso verführerisch weiblich, wie unschuldig kindlich. Genau wie damals.

Heute würde Joe sagen: Das nunmehr kurzhaarige, schwarzäugige Spiegelbild von Liv Tyler.

„Arbeite bei Nils. Seit heute“, antwortet Lilli knapp.

Joe runzelt die Stirn. Sie hatten in Hesperia nicht nur wie zwei ausgehungerte Wölfe gevögelt. Bei leckerem Essen und bestem kalifornischem Rotwein haben sie auch sehr intime und sehr vertraute Gespräche geführt. Sie war mit einem passionierten älteren Fernfahrer verheiratet. Der teilte zwar Lillis glühende Leidenschaft für Kraftfahrzeuge, dafür aber selten das Bett mit ihr. Ersteres weckte in Lilli den Wunsch nach einem ganz anderen Beruf, weit weg von der Oberflächlichkeit im Modelbusiness. Letzteres war sicher nicht unerheblich dafür, dass sie sich auf diese heiße und intensive Nacht mit Hunter eingelassen hatte.

„Was ist aus deinem Traum geworden?“

„Kündigung nach fünfzehn Jahren. Das ist daraus geworden.“

Sie zuckt gleichgültig mit den Schultern, doch Joe spürt, dass sie ihm nur etwas vormacht.

In seiner Hose stimmt Ed Sheeran gerade Thinking out loud an. Das ist sicher Elias, der ihn an seinen nächsten Termin erinnert. „Lilli“, sagt Joe und rutscht lässig vom Barhocker, um sein Smartphone aus der Gesäßtasche zu fischen, „wir sollten...“

„Nein“, fällt sie ihm entschieden ins Wort. „Wir sollen gar nichts, Joe.“

Er stellt das Gerät lautlos und legt es auf den Tresen. Der Termin hat augenblicklich nicht mehr oberste Priorität. „Lilli? Warum?“

„Weil ich nicht in der Vergangenheit leben will, Joe. Weil ich es nicht kann“, antwortet sie mit hörbarem Zittern in der Stimme. „Neben Rick weißt nur du das am allerbesten.“

Ja. Das tut er. Lilli hatte sich ihm während ihrer sieben Besuche in French Quarter anvertraut. Hatte es müssen. Er hütet ihr Geheimnis bis heute. Und das ist, was sie miteinander verbindet.

„Hm“, brummt Joe und reibt sich unzufrieden mit der flachen rechten Hand die linke Wange. So leicht würde er ganz bestimmt nicht die Segel streichen. „Denkst du nicht, dass alles einen Grund hat? Hesperia? French Quarter? Und jetzt hier? Im Heute?“

Sie verdreht genervt die Augen und Joe setzt nach. „Wir sollen uns immer wieder über den Weg laufen, Lilli.“

„Nein“, schüttelt sie nun energisch den Kopf. „Nein. Sollen wir nicht. Das ist Blödsinn. Du hast dein Leben und ich... habe darin nichts verloren.“

„Lilli“, seufzt Joe. Bereits bei ihren letzten Besuchen konnte er spüren, wie sie um sich Stein für Stein eine Mauer errichtete. Inzwischen scheint kaum noch ein Herankommen denkbar. „Ich bitte dich. Das ist jetzt Blödsinn.“

„Joe“, bringt Nils sich zu allem Überfluss nun auch noch ein. „Wäre es vielleicht möglich, dass Lilli nicht...“

Joes finsterer Blick bringt ihn auf der Stelle zum Schweigen.

„Okay“, knurrt Nils. „Eure Sache.“

„Lilli...“

„Joe? Lass es einfach. Bitte.“

Seine eisblauen Augen bohren sich in ihr zartes Gesicht. Nein. Dazu war er nicht bereit. Sein natürlicher Beschützerinstinkt war geweckt. Und so schnell würde er gewiss nicht aufgeben. Würde er Lilli nicht aufgeben.

Dennoch antwortet Joe nachsichtig: „Okay, Lilli. Wie du möchtest.“

Er beugt sich über den Tresen, nimmt ihr Gesicht in seine Hände und platziert einen zarten Kuss auf ihre Stirn. „Ist trotzdem schön, dich wiederzusehen.“

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